Auf ihrem Weg nach Europa begeben sich unzählige Flüchtlinge und Migrantenkinder auf gefährliche Flüchtlingsrouten quer durch Afrika. Libyen wird dabei für viele von ihnen zu einem zentralen Transitpunkt. Doch innerhalb der libyschen Grenzen sind Not und Elend weiterhin allgegenwärtig. Aus den zahlreichen Haftanstalten, in denen Migrantenkinder gegen ihren Willen festgehalten werden, dringen erschütternde Berichte über Misshandlungen, Folter und unmenschliche Zustände nach außen. So alarmierend diese Berichte auch sind – das volle Ausmaß des Missstands bleibt bislang weitgehend im Verborgenen.
Binnenvertreibung und -migration in Afrika
In den letzten Jahren wurden Migrationsgesetze immer restriktiver. Sichere und reguläre Flüchtlingsrouten existieren daher heute praktisch nicht mehr. Menschen, die ihre Heimat notgedrungen verlassen müssen, haben oft keine andere Wahl, als ungeregelte und riskante Grenzübertritte zu wagen. In letzter Zeit lag der Fokus der Berichterstattung hauptsächlich auf Meldungen über den Tod und das Verschwinden von Migranten im Mittelmeer. Zeitgleich wurden Tausende Todesfälle und unzählige Vermisste entlang verschiedener Migrationsrouten auf dem afrikanischen Kontinent verzeichnet (IOM, 2024).
Die Zahlen sind erschütternd: Im Jahr 2024 wurden in Afrika 35 Mio. inländisch vertriebene Menschen gezählt. Fast die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit befand sich damit auf dem afrikanischen Kontinent. Insgesamt 32,5 Mio. dieser Menschen sind infolge von Konflikten und Gewalt geflohen, wobei 80 % von ihnen lediglich fünf Ländern zugehören (IDMC, 2024). Libyen ist bis heute ein zentrales Transitland für Flüchtlinge und Migranten aus Subsahara-Afrika. Im Juli 2024 befanden sich schätzungsweise 760.000 Flüchtlinge in diesem Land (USAID, 2024).
Aufgrund des Mangels an sicheren und legalen Fluchtwegen aus Libyen bleibt dem Großteil der Migranten keine andere Wahl, als eine Überquerung des Mittelmeers anzutreten, um in Sicherheit zu gelangen. Nach Angaben vieler Überlebender haben sie wiederholt versucht, die „wohl tödlichste Migrationsroute der Welt zu überqueren, wobei sie in Libyen festgehalten und in einen Kreislauf von Gewalt, Missbrauch und Erpressung getrieben wurden“ (Ärzte ohne Grenzen, 2022).
Libysche Haftlager – Schauplätze grausamer Menschenrechtsverletzungen
In Libyen sind 34 Haftanstalten bekannt, darunter drei in der libyschen Wüste. Die meisten werden von der Regierungsabteilung für die Bekämpfung von Ansiedlung und illegaler Einwanderung betrieben (BBC, 2017). Es gibt jedoch Berichte, wonach bewaffnete Gruppen Migranten in einer unbekannten Zahl illegaler Gefangenenlager festhalten. Die Route werde „weitgehend von Schmugglern, Menschenhändlern und anderen Ausbeutern beherrscht, die gezielt verzweifelte Frauen und Kinder ins Visier nehmen – Menschen, die nichts außer Sicherheit und ein besseres Leben suchen“ (Al Jazeera,2017).
Libyen hat zwar die Flüchtlingskonvention der Organisation für Afrikanische Einheit unterzeichnet, nicht aber die Genfer Flüchtlingskonvention. Dabei handelt es sich um eine Verfassungserklärung, die das Recht auf Asyl in Übereinstimmung mit dem Gesetz garantiert und festlegt, dass politische Flüchtlinge nicht abgeschoben werden dürfen. In Realität gibt es in Libyen allerdings keine nationalen Behörden, die den Flüchtlingsstatus feststellen oder entsprechende Registrierungen vornehmen könnten.
Zudem bleibt Personen, die internationalen Schutz benötigen, in diesem Land der Zugriff auf grundlegende Asylrechte verwehrt. Dazu zählen das Recht auf legalen Aufenthalt, Nichtkriminalisierung oder Kriminalisierung der irregulären Einreise, Zugang zu anerkannten Dokumenten und Grundrechten sowie der Schutz vor Abschiebung in unsichere Länder. Ebenso wenig gibt es in Libyen Schutzbestimmungen speziell für Flüchtlingskinder (Norwegischer Flüchtlingsrat, 2023).
Dies hat zur Folge, dass Kinder keine Sonderbehandlung erfahren und häufig zusammen mit erwachsenen Häftlingen in einer Zelle untergebracht werden, was die Gefahr von Missbrauch weiter erhöht. Zahlreiche Berichte dokumentieren die Vernachlässigung von Flüchtlingskindern in Auffanglagern und Krankenhäusern (Al Jazeera, 2017). Migranten- und Flüchtlingskinder in Libyen sind daher tagtäglich schwerwiegenden Rechtsverstößen ausgesetzt. Dazu gehören willkürliche Inhaftierungen, Misshandlungen, Erpressung sowie die Unterbringung unter unmenschlichen Bedürfnissen in überfüllten Gefangenenlagern (UNICEF, 2021).
Al Mabani, das größte Auffanglager Libyens, umfasst beispielsweise „mehr als 5.000 Menschen – viermal mehr als die offizielle Kapazität erlaubt –, darunter 100 Kinder und 300 Frauen“ (UNICEF, 2021). Auf Basis der erhobenen Daten werden etwa 99 Kinder (49 Jungen und 50 Mädchen) willkürlich in libyschen Haftlagern festgehalten (Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, 2024).
Misshandlung von Migrantenkindern in Tripolis
Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten, die in mehr als einem Dutzend Auffanglagern in Tripolis festgehalten werden, sind „Angriffen, sexueller Gewalt, Misshandlungen und sogar Tötungen ausgesetzt. Sie werden systematisch ihrer grundlegendsten Menschenrechte beraubt, darunter des Rechts auf angemessenen Zugang zu Nahrung, Wasser, sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung“ (Ärzte ohne Grenzen, 2023). Insbesondere sind die Sicherheit und das Wohlergehen von Tausenden von Frauen und Kindern gefährdet (Amnesty International, 2020; UNICEF, 2021).

Flüchtlinge und Migranten werden regelmäßig an Milizen ausgeliefert, die inoffizielle Haftanstalten in Tripolis betreiben (Amnesty International, 2020). Kinder, unbegleitete Minderjährige, Kleinkinder, Säuglinge und Neugeborene leiden unter der „willkürlichen Inhaftierung unter unmenschlichen Bedingungen, bei der ihnen systematisch der Zugang zu ausreichend Nahrung, Wasser, sanitären Einrichtungen, Bewegung und medizinischer Versorgung verwehrt blieb. Selbst Grundlegendes wie Decken, Kleidung, Windeln oder Binden blieb ihnen vorenthalten. Sie wurden dabei ohne rechtliche Schutzmaßnahmen oder Rechtsbeistand festgehalten“ (Ärzte ohne Grenzen, 2023).
Die Rolle der EU und die Folgen des neuen Migrations- und Asylpakts
Migranten und Asylsuchende versuchen weiterhin verzweifelt, von Libyen aus nach Europa zu gelangen (Human Rights Watch, 2025). Die EU reagiert auf diese Entwicklungen vor allem mit Maßnahmen zur Eindämmung der Migrationsbewegungen. Um den Zustrom von Flüchtlingen um jeden Preis zu begrenzen, unterstützten die EU-Mitgliedstaaten Libyen. Dabei umgehen sie internationale Gesetze, die Schutzsuchende vor der Rückführung in gefährliche Länder bewahren sollen – und setzten so grundlegende Menschenrechte außer Kraft (Amnesty International, 2020).
So überließen die europäischen Regierungen Libyen die Verantwortung für die Rettungsmaßnahmen in weiten Teilen des Mittelmeers, anstatt für eine umfassende Such- und Rettungsmission im zentralen Mittelmeer zu sorgen. Dies hatte fatale Folgen: Allein im Jahr 2021 verloren schätzungsweise 1.553 Menschen ihr Leben bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren (Ärzte ohne Grenzen, 2022).
Gemäß dem neuen Migrationspakt werden irregulär einreisende Personen (einschließlich jener, die nach einer Seenotrettung an Land gebracht werden), in Gewahrsam genommen und in mangelhafte, beschleunigte Asylverfahren eingeschleust. Dabei entfallen wesentliche Schutzmechanismen, die in regulären Verfahren gelten, wie Rechtsbeistand oder die Erfassung von Fingerabdrücken bei Kindern im Alter von sechs Jahren.
Diese neuen Vorschriften, die im Zuge des Migrationspakts eingeführt wurden, traten am 11. Juni 2024 in Kraft und werden bis 2026 umgesetzt (Europäische Kommission, 2024). Eine gängige Strategie besteht darin, die Verantwortung auf Nachbarländer wie Libyen, Tunesien, die Türkei und Ägypten abzuwälzen, wodurch die völlige Missachtung der Rechte Schutzsuchender zementiert wird (Human Rights Watch, 2023).
Gewährleistung von Schutzmaßnahmen für Kinder auf Flüchtlingswegen
Da insbesondere Migrantenkinder einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, darunter willkürliche Inhaftierung, Zwangsarbeit, eingeschränkte Bewegungsfreiheit und sexuelle Gewalt, besteht ein dringender Bedarf an Schutzhilfe. Sichere und legale Fluchtwege sowie verbindliche Schutzmaßnahmen sind unerlässlich, um ihre Sicherheit zu gewährleisten und sie vor Gewalt und Ausbeutung zu schützen (Al Jazeera, 2017; USAID, 2024).
Flüchtlingsbewegungen in ganz Afrika dauern zunehmend länger an, weswegen eine wachsende Zahl Vertriebener in hohem Maße auf humanitäre Hilfe angewiesen ist (IOM, 2024). Eine nachhaltige Lösung „erfordert zwingend, dass allen Migranten und Flüchtlingen in Seenot sofortige und wirksame Hilfe zuteilwird. Dazu gehören u. a. angemessene, staatlich koordinierte Seepatrouillen sowie die Unterstützung von Such- und Rettungsmissionen durch private und kommerzielle Schiffe oder humanitäre Organisationen.
Dabei muss sichergestellt werden, dass die Geretteten zügig in einem sicheren Hafen an Land gehen können“ (IOM, 2024). Es ist außerdem wichtig, Migrantenkindern gezielte und bedarfsgerechte Unterstützung zu bieten, etwa durch finanzielle Mittel für psychische Gesundheitsversorgung, medizinische Betreuung, Bildungsangebote und Rechtsbeistand für illegal inhaftierte Kinder.
Darüber hinaus müssen die Menschenrechte von Flüchtlingen und Migranten sowie der Schutz von Kindern und Opfern von Gewalt, insbesondere sexueller Gewalt, über den gesamten Migrationsweg hinweg gewährleistet werden (Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, 2024). Um einen derart umfassenden Schutz für Flüchtlinge und Migrantenkinder zu erreichen, müssen die libyschen Behörden die UN-Flüchtlingskonvention unterzeichnen und darauf aufbauend ein funktionierendes System zum Schutz von Flüchtlingen einrichten.
Ferner muss der Staat sicherstellen, dass die libyschen Haftanstalten im Einklang mit dem Völkerrecht stehen, insbesondere den Kinderrechten. Sie müssen unabhängigen Inspektionen unterzogen werden, und Verstöße müssen transparent erfasst und gemeldet werden.
Diese Überwachung und Berichterstattung sollte durch die internationale Zusammenarbeit der verschiedenen EU-Büros, UN-Agenturen und vor Ort tätiger Nichtregierungsorganisationen ergänzt werden. Ziel ist es, die Rechte der Migranten wirksamer zu schützen, unabhängige Untersuchungen zu ermöglichen oder humanitäre Hilfe zu finanzieren, unterstützt durch eine konsolidierte Erfassung und Analyse relevanter Daten.

Als Kinderrechtsorganisation, die weltweit zahlreiche Projekte durchgeführt hat, setzt sich Humanium weiterhin für die Wahrung der Rechte von Kindern auf Leben, Schutz und Gesundheit ein. Wenn Sie zusammen mit Humanium einen Beitrag leisten wollen, um das Leben von Kindern zu verbessern, können Sie spenden, sich ehrenamtlich engagieren oder Mitglied werden.
Verfasst von Moïra Phuöng Van de Poël
Übersetzt von Melanie Morawetz
Korrektur gelesen von Jana Ruf
Bibliografie:
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