Die anhaltende Krise in Nagorny Karabach: vom Konflikt zerrüttete Kindheiten

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Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat der Nagorny Karabach-Konflikt, der sich zu einem langwierigen und komplexen Konflikt um ein Gebiet zwischen Armenien und Aserbaidschan entwickelt hat, Generationen von in der Region aufwachsenden Kindern nachhaltig geprägt. Dieser andauernde Konflikt, der auf historische, kulturelle und politische Faktoren zurückzuführen ist, hat junge Menschen in eine Welt voller Unsicherheit, Vertreibung und oft auch Traumata geführt. In den Jahren 2020 und 2023 kam es in der Region zu einer erneuten Eskalation und die Herausforderung, die Normalität zu wahren und die Hoffnung auf ein normales Leben der Kinder aufrecht zu erhalten, wurde weiter erschwert.

Der Konflikt

Die Ursprünge des Konflikts können bis vor fast 100 Jahren zurückverfolgt werden, jedoch war am Ende des 20. Jahrhunderts eine deutliche Eskalation zu spüren. In den späten 1980er Jahren führten die zunehmenden Spannungen zu einem Krieg, der von 1991 bis 1994 andauerte (Parliamentary Assembly of the Council of Europe, 2021).

Den Berichten zufolge verloren von 1988 bis zum Ende des Kriegs ungefähr 30.000 Menschen ihr Leben, und rund 1 Million Menschen mussten flüchten oder wurden vertrieben. Je nach ethnischer Zugehörigkeit wurden sie entweder nach Aserbaidschan oder nach Armenien umgesiedelt (Droin et al, 2023).

Die Kinder in der Region erlebten die Schrecken des Krieges und auch als der Krieg offiziell vorbei war, mussten sie mit seinen schrecklichen Folgen fertig werden. Fast 30 Jahre nach dem Waffenstillstand von 1994 konnten viele von ihnen noch immer nicht in ihre Heimat zurückkehren, und es gibt keinen Ort, an den sie zurückkehren könnten. Einige von ihnen wurden weit entfernt von der Heimat ihrer Familien geboren und es ist gut möglich, dass sie diese nie wieder sehen werden.

In den darauffolgenden drei Jahrzehnten wuchsen diese Kinder in einem Klima auf, das weder als Krieg noch als Frieden bezeichnet werden konnte. Diejenigen, deren Familien nach dem Waffenstillstand 1993/94 nach Nagorny Karabach zurückkehrten, lebten in Unsicherheit, geprägt von schlechten wirtschaftlichen Bedingungen, zerstörter Infrastruktur und nicht von Minen befreiten Ländereien (Parliamentary Assembly of the Council of Europe, 2021). Trotz der Erschwernisse ging ihr Leben weiter und viele von ihnen brachten ihre eigenen Kinder zur Welt.

Im September 2020 brach der Konflikt jedoch erneut aus. Während eines sechswöchigen Krieges wurden mindestens 91.000 Menschen vertrieben, davon rund 88 % Frauen, Kinder und ältere Menschen (UNHCR, n.d.). Viele dieser Menschen haben als Kinder die Schrecken des Krieges miterlebt und müssen nun mit ansehen, wie ihre Kinder dasselbe durchmachen.

Die Auswirkungen der Konflikte von 2020 und 2023 auf vertriebene Kinder

Der Krieg von 2020 kostete mindestens 146 Zivilisten das Leben, darunter mehrere Kinder (Amnesty International, 2021). Die Überlebenden wurden vertrieben, viele von ihnen flüchteten nach Armenien und blieben auf unbestimmte Zeit dort. Der Anteil der Kinder unter den Vertriebenen macht zwischen 32 und 42 % aus (Parliamentary Assembly of the Council of Europe, 2021). 

Das tägliche Leben derjenigen, die nirgendwohin zurückkehren können, ist ein ständiger Kampf, um die provisorischen Unterkünfte zu verlassen und ein Leben in einem neuen Umfeld aufzubauen. Die größten Schwierigkeiten auf dem Weg dorthin sind das Fehlen eines festen Wohnsitzes und eines Arbeitsplatzes für Erwachsene sowie die massive soziale und psychologische Belastung (Parliamentary Assembly of the Council of Europe, 2021). 

Der Ausbruch der COVID-19-Pandemie verschlimmerte die Situation noch zusätzlich: es kam zu einem Gefühl der Isolation, Kinder konnten ihre Ausbildung in der Schule nicht fortsetzen und bekamen die Belastung wegen Unsicherheit und Traumata ihrer Familien stark zu spüren. Die mit der Pandemie und dem Leben in Notunterkünften verbundenen Gesundheitsrisiken stellten eine zusätzliche Bedrohung dar.

Nach dem Ende des Krieges im Jahr 2020 begann die Rückkehr der Vertriebenen nach Nagorny Karabach, darunter waren sowohl aserbaidschanische als auch die armenische Bürger. Ihre Bemühungen, ihr Leben wieder aufzubauen, wurden jedoch von der ständigen Angst vor neuen Eskalationen überschattet.

Diese Befürchtungen erwiesen sich als berechtigt, denn im September 2023 kam es zu einem erneuten Ausbruch der Feindseligkeiten, der zwar nur zwei Tage dauerte, aber eine massive Abwanderung aus Nagorny Karabach auslöste. Schätzungen zufolge haben bisher etwa 100’000 Menschen das Gebiet verlassen, und es gibt keine Hinweise darauf, ob sie zurückkehren werden oder nicht (UN News, 2023). Man schätzt, dass etwa 30 % dieser Menschen Kinder sind (ReliefWeb, 2023).

Bildung als höchste Priorität

Der Konflikt von 2020 sowie der vorangegangene Krieg haben das Recht dieser Kinder auf Bildung stark beeinträchtigt. Offiziellen Angaben zufolge wurden während des Krieges im Jahr 2020 71 Schulen auf armenischer und 54 auf aserbaidschanischer Seite beschädigt oder sogar ganz zerstört, ebenso wie Dutzende von Kindergärten, Kunstschulen, Sportschulen und Berufsschulen (Human Rights Watch, 2021).

Außerdem wurden viele Schulen als Notunterkünfte für die Vertriebenen genutzt, was ein zusätzliches Hindernis für die Wiedereröffnung von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen nach dem Waffenstillstand im November 2020 darstellte. Ein Hindernis anderer Art war die Tatsache, dass viele Eltern aufgrund der häufigen Waffenstillstandsverletzungen und der Nähe der militärischen Truppen der anderen Konfliktpartei einfach zu große Angst hatten, ihre Kinder in die Schule zu schicken.

Die Eskalation im September 2023 hat die Situation erneut verschärft. Mehr als 21.000 Kinder im schulpflichtigen Alter flohen nach dem Konflikt nach Armenien, und einen Monat nach ihrem Exodus aus Nagorny Karabach wurden nur mehr zwei Drittel von ihnen in den nationalen Schulen in Armenien angemeldet.

Einer von drei dieser vertriebenen jungen Menschen hat also immer noch keinen Zugang zu Bildung (ReliefWeb, 2023). Das Fehlen einer angemessenen Schulbildung schmälert nicht nur ihr Recht auf Bildung, sondern bringt düstere Zukunftsaussichten und fehlende Stabilität für die gesamte Region mit sich.

Sofortige Erleichterung und Wegbereiter für eine bessere Zukunft

Es ist daher von entscheidender Bedeutung, sich um die dringendsten Bedürfnisse der Kinder zu kümmern, die von der jüngsten Eskalation der Gewalt in Nagorny Karabach betroffen sind. Internationale humanitäre Organisationen sowie Einzelpersonen könnten dabei helfen, Grundbedürfnisse zu decken z. B. in Form von Lebensmitteln, Medikamenten und Hygienepaketen. Der Schutz der körperlichen und geistigen Gesundheit ist ebenso wichtig wie die Suche nach dauerhaften Unterkünften, damit die Kinder so normal wie möglich leben können.

Bildung ist ein Schlüsselfaktor für eine bessere Zukunft in der Region, da sie junge Menschen mit dem Wissen und den Fähigkeiten unterstützt, die sie für den Wiederaufbau ihrer Gemeinschaften benötigen, und so die wirtschaftliche Stabilität und den sozialen Zusammenhalt fördert. Durch den Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung können Kinder aus Nagorny Karabach aller Ethnien den Kreislauf von Gewalt und Hoffnungslosigkeit durchbrechen und den Weg für eine friedlichere und gesicherte Zukunft ebnen.

Wir von Humanium sind der festen Überzeugung, dass Kinder die Zukunft dieser Welt sind und dass sie es verdienen, in Frieden zu leben, unabhängig davon, welcher Ethnie sie angehören. Humanium glaubt fest an eine Welt, in der die Grundrechte der Kinder respektiert und umgesetzt werden, und ist aktiv an Projekten beteiligt, die das Wohlergehen von Kindern auf der ganzen Welt fördern. Wenn Sie unsere Vision von einer sicheren Welt für Kinder teilen und einen wertvollen Beitrag zu unserem Engagement leisten wollen, können Sie uns Ihre Spende zukommen lassen, bei uns ehrenamtlich mitarbeiten oder eine Patenschaft für ein Kind übernehmen. 

Geschrieben von Zeljka Mazinjanin

Übersetzt von Helga Burgat

Korrigiert von Katrin Glatzer

Bibliografie:

Amnesty International (2021), Azerbaijan/Armenia: Scores of civilians killed by indiscriminate use of weapons in conflict over Nagorno-Karabakh, Retrieved from Amnesty International, available at https://www.amnesty.org/en/latest/press-release/2021/01/azerbaijan-armenia-scores-of-civilians-killed-by-indiscriminate-use-of-weapons-in-conflict-over-nagorno-karabakh/, accessed on October 25, 2023.

Droin et al (2023), A Renewed Nagorno-Karabakh Conflict: Reading Between the Front Lines. Retrieved from Center for Strategic and International Studies, available at https://www.csis.org/analysis/renewed-nagorno-karabakh-conflict-reading-between-front-lines, accessed on October 25, 2023.

Human Rights Watch (2021), Lessons of War: Attacks on Schools During the Nagorno-Karabakh War. Retrieved from Human Rights Watch, available at https://www.hrw.org/news/2021/09/08/lessons-war, accessed on October 27, 2023.

Parliamentary Assembly of the Council of Europe (2021), Humanitarian consequences of the conflict between Armenia and Azerbaijan. Retrieved from Parliamentary Assembly of the Council of Europe, available at https://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-XML2HTML-en.asp?fileid=29401&lang=en, accessed on October 25, 2023.

ReliefWeb (2023), Over 26,000 children flee Nagorno-Karabakh and need urgent humanitarian assistance – Save the Children. Retrieved from ReliefWeb, available at https://reliefweb.int/report/armenia/over-26000-children-flee-nagorno-karabakh-and-need-urgent-humanitarian-assistance-save-children, accessed on October 27, 2023.

ReliefWeb (2023), Two-thirds of refugee children in Armenia enrolled in school, efforts must now focus on expanding access to education for all children. Retrieved from ReliefWeb, available on https://reliefweb.int/report/armenia/two-thirds-refugee-children-armenia-enrolled-school-efforts-must-now-focus-expanding-access-education-all-children, accessed on November 4, 2023.

UNHCR, n.d., Persons in a refugee-like situation. Retrieved from UNHCR, available at https://www.unhcr.org/am/en/persons-in-refugee-like-situation, accessed on October 25, 2023.

UN News (2023), UN Karabakh mission told ‘sudden’ exodus means as few as 50 ethnic Armenians may remain. Retrieved from United Nations, available at https://news.un.org/en/story/2023/10/1141782, accessed on October 27, 2023.