Die Abschiebung und Zwangsumsiedelung ukrainischer Kinder

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Die aktuelle Situation in der Ukraine hat die gesamte internationale Gemeinschaft in Aufruhr versetzt. Innerhalb von mehr als einem Jahr konnten Nichtregierungsorganisationen, UN-Gremien und die internationale Presse eine zunehmende Anzahl an Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte beobachten. Einer der Vorwürfe, der heute noch sehr stark nachhallt, ist die Abschiebung und die Zwangsumsiedelungukrainischer Kinder durch russische Agenten als Teil einer fortwährenden Politik der aktuellen russischen Regierung, die gegen die Bestimmungen und die Grundprinzipien des Völkerrechts verstößt.

Der Zusammenhang zwischen dem russisch-ukrainischen Konflikt, der zur Abschiebung und Zwangsumsiedelung führt

Am 24. Februar 2022, nach der Anerkennung zweier pro-russischer Regionen in der Ukraine (Donetsk und Luhansk), ordnete der Präsident der Russischen Föderation, Vladmir Vladimirovich Putin, den Beginn einer „speziellen Militäroperation“ zur „Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ der Ukraine an, wie es in einem offiziellen, noch am selben Tag verfassten Schreiben der Ständigen Vertretung der Russischen Föderation an den Generalsekretär der Vereinten Nationen heißt (United Nations Security Council (UNSC), 2022.

Zahlreiche Verstöße gegen die Prinzipien und Bestimmungen des Völkerrechts durch russische Beamte kamen mehr als ein Jahr nach dem Einmarsch ans Licht, aufgedeckt von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen und UN-Gremien.

Ein solches Beispiel ist der von Human Rights Watch (HRW) herausgegebene Bericht, der  das Bestehen eines Systems der Zwangsumsiedelung von Zivilisten in russische und von Russland kontrollierte Gebiete  darstellen soll. HRW berichtet von der Erfahrung eines Freiwilligen, der von ukrainischen Regionalbehörden gebeten wurde, Kinder im Alter von 2 bis 17 Jahren zu retten, die von ihren Familien aus einer bestimmten Gesundheitseinrichtung nicht zurückgeholt werden konnten (HRW, 2022, S. 54).

Berichten zufolge wurde der Freiwillige an einem Kontrollpunkt in Manhush sowohl von einem Militäroffizier als auch von einem angeblichen Minister für Sozialpolitik der Volksrepublik Donetsk abgefangen (HRW, 2022, S. 54). Die Kinder, die er retten wollte, wurden ihm weggenommen und anschließend an verschiedene Orte gebracht – die Spuren von elf der Kinder blieben bis zur Veröffentlichung dieses Dokuments unbekannt (HRW, 2022, S. 55).

Diese Informationen stimmten mit dem Inhalt überein, der anschließend auf der offiziellen Website der russischen Kommission für die Rechte des Kindes unter dem Titel „Antworten auf die Fragen zur Unterbringung von Waisenkindern aus der Volksrepublik Donetsk (DNR) und der Volksrepublik Luhansk (LNR) in russischen Familien“ veröffentlicht wurde (Commissioner for Children’s Rights under the President of the Russian Federation, 2022).

Weitere Anscheinsindizien für die Abschiebung und Zwangsumsiedlung

Ein weiterer nennenswerter Bericht, der vom Yale School of Public Health Humanitarian Research Lab (Yale HRL) herausgegeben wurde, soll die Existenz eines Netzes von Lagern und Einrichtungen sowohl auf dem russischen Festland als auch in den von Russland besetzten Gebieten belegen, in denen Kinder angeblich zu verschiedenen Zwecken festgehalten werden, beispielsweise zur politischen „Umerziehung“, um sie so einer Gehirnwäsche zu unterziehen (Yale HRL, 2023, S. 14).

Laut diesem Bericht gibt es vier Hauptkategorien von Kindern, auf die das russische Umerziehungssystem abzielt: Kindern mit Eltern oder Erziehungsberechtigten, Kinder, die von Russland als Waisenkinder angesehen werden, und Kinder, die vor der Invasion 2022 in der Obhut ukrainischer Einrichtungen waren (Yale HRL, 2023, S. 4).

Die ungefähre Zahl der entführten Kinder bleibt unklar (Yale HRL, 2023, S. 10). Jedoch scheinen die Gründe für die Verbringung klar zu sein, darunter fallen die angebliche Evakuierung aus Waisenhäusern und von der Front, Verlegung zur medizinischen Versorgung, Adoption, Unterbringung in einer Pflegefamilie und Verlegung auf Grundlage einer [manipulierten] Zustimmung der Eltern, die Kinder in Erholungslager unterzubringen (Yale HRL, 2023, S. 10).

Die Verzweiflung ist so groß, dass die Zustimmung der Eltern auf beschämende Weise von russischen Agenten umgangen wird, die die Eltern in vielen Fällen dazu bringen, Blankodokumente zu unterzeichnen (Yale HRL, 2023, S. 13) – ein Vorwand, welches später dazu dient, dem ganzen Prozess den Anschein von Rechtmäßigkeit zu verleihen. In einigen anderen Fällen halten die Russen sogar Kinder von ihren Eltern zurück und setzen ihre Rückkehr einseitig aus (Yale HRL, 2023, S. 16).

Die von der unabhängigen internationalen Untersuchungskommission für die Ukraine (die Kommission) gesammelten Beweise zeigen ein weit verbreitetes Muster von Umsiedlungen und Abschiebungen von Kindern.

Sie verweist auf die Änderungen in der Politik der derzeitigen russischen Regierung, die die Möglichkeit der Beantragung der russischen Staatsbürgerschaft für eine bestimmte Kategorie von Kindern eingeführt hat – angeblich, um den Prozess für eine dauerhafte Vormundschaft zu beschleunigen und zu erleichtern (Decree of the President of the Russian Federation, 2022; UNHRC, 2023, para. 96). Darüber hinaus wurde im Juli 2022 die erste Erteilung der Staatsbürgerschaft für Kinder, die ursprünglich aus der Volksrepublik Donetsk stammen, bestätigt (Amnesty International, 2022, S. 28).

Ein ähnliches Muster wie im Yale HRL-Bericht ist im Bericht der Kommission zu erkennen: Umsiedlungen von Kindern, die ihre Eltern verloren haben oder während der Konflikte vorübergehend den Kontakt zu ihnen verloren haben; Umsiedlungen von Kindern in Einrichtungen; längere Verlegungen; Unterbringung in Pflegefamilien; Adoptionen (UNHRC, 2023, para. 97-100).

Wie versucht die internationale Gemeinschaft, diese Taten abzuwehren?

Das Lager-, Pflegefamilien- und Adoptionssystem scheint ein gut durchdachtes und geplantes System zu sein, an dessen Spitze föderale und regionale Verantwortliche stehen, die ihr Verhalten mit der Sprache der Menschenrechte tarnen (Yale HRL, 2023, S. 17-18). In diesem Sinne ließ die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf die Hauptverantwortlichen nicht lange auf sich warten – es wurden mehrere Sanktionen gegen sie verhängt und Strafverfolgungen auf internationaler Ebene eingeleitet.

Am 22. Februar 2023 reichte der Ankläger des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, aufgrund der gesammelten Beweise und in Anwendung des Römischen Statuts eine Klage gegen den Präsidenten der Russischen Föderation, Vladimir Vladimirovich Putin, und gegen die Beauftragte für die Rechte der Kinder im Büro des Präsidenten der Russischen Föderation, Maria Alekseyevna Lvova-Belova, ein (ICC Press Release, 2023).

Am 17. März 2023 führte das Ersuchen zum Erlass eines Haftbefehls gegen diese Persönlichkeiten sowohl wegen Kriegsverbrechens der rechtswidrigen Abschiebung der Bevölkerung (Kinder) als auch aufgrund der rechtswidrigen Umsiedelung der Bevölkerung (Kinder) aus den besetzten Gebieten der Ukraine in die Russische Föderation (ICC Press Release, 2023). Die internationale Gemeinschaft war sehr überrascht, dass das Verbrechen des Völkermords (Artikel 6 des Römischen Statuts) nicht in die Anklage aufgenommen wurde.

Im April 2023 war der Vorsitz des UN-Sicherheitsrates für die russische Vertretung reserviert (UNSC, Security Council Presidency). In Ausübung dieses Vorrechts berief die russische Vertretung eine informelle Sitzung ein, praktisch unter der Leitung der Kommissarin Maria Lvova-Belova, um sich mit den Themen in Bezug auf Kinder in der Ukraine zu befassen (The Guardian, 2023).

In Ablehnung des russischen Vorgehens drückten die Staaten ein Auge zu, als der Sprecher die Sitzung verließ. Die USA und das Vereinigte Königreich blockierten ihrerseits den UN-Webcast, um die Verbreitung von Falschinformationen zu verhindern (The Guardian, 2023).

Internationale Sanktionen sind zu einem Schlüsselelement in den internationalen Beziehungen geworden. Sie werden häufig gegen Einzelpersonen, Staaten und nichtstaatliche Organisationen verhängt, die eine Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit darstellen.

Staaten und internationale Organisationen haben Sanktionen gegen Personen und Organisationen verhängt, die den Krieg in der Ukraine irgendwie befeuert haben. Die Regierungen des Vereinigten Königreichs und Neuseelands haben beispielsweise Vladimir Putin und Maria Lvova-Belova auf ihre Sanktionsliste gesetzt, um Druck auf Russland auszuüben (UK Press release, 2023; New Zealand Foreign Affairs & Trade, 2023).

Ein großer Wirtschaftsblock wie die Europäische Union hat beide ebenfalls in die Liste der sanktionierten Personen aufgenommen, um die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft zu unterstützen, die Gewalttaten ein für alle Mal zu beenden (European Council, 2023; Official Journal of the European Union, 2023).

Einige erwägenswerte Wege

Die Ereignisse seit Beginn des russischen Einmarschs haben verheerende Auswirkungen auf die Rechte von Kindern. Kinder, die während einer humanitären Notsituation von ihren Eltern getrennt wurden, können nicht als Waisenkinder angesehen und daher nicht zur Adoption freigegeben werden – oder zur „Vormundschaft“, wie es die russischen Behörden bezeichnen. Solange die elterliche Situation noch nicht geklärt ist, muss davon ausgegangen werden, dass sie noch lebende Verwandte oder Erziehungsberechtigte haben.

Die Abschiebung und Zwangsumsiedlung ukrainischer Kinder durch russische Beamte stellen eine schwere Verletzung des humanitären Völkerrechts und der internationalen Menschenrechte dar. Auch wenn es für dieses komplexe Thema keine Einzellösung gibt, ist es von größter Bedeutung, dass sich die internationale Gemeinschaft weiterhin darauf fokussiert, diese Verbrechen von vornherein zu verhindern: Eine Kombination aus diplomatischem Druck und humanitärer Hilfe kann kurzfristig wichtige Abhilfe schaffen, um die Rechte von Kindern zu schützen und zu wahren. Die strafrechtliche Rechenschaftspflicht bleibt jedoch ein langwieriger Prozess, da es in erster Linie darum geht, die Komplexität zu bewältigen.

Als Nichtregierungsorganisation, die sich für das Wohlbefinden von Kindern weltweit einsetzt, verurteilt Humanium Abschiebung, Zwangsumsiedelungen und Gewalt gegen Kinder. Humanium arbeitet auch weiter daran, das Bewusstsein für die Rechte von Kindern zu schärfen. In diesem Zusammenhang appellieren wir an die Unterstützung derjenigen, die sich mit diesem Thema identifizieren. Wenn Sie uns unterstützen möchten, dann können Sie spenden, eine Patenschaft übernehmen oder als Freiwilliger eines unserer derzeitigen Projekte unterstützen.

Geschrieben von: Camila Ortiz Britez

Übersetzt von: Franziska Theis

Korrektur gelesen von: Marie Podewski

Bibliographie:

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