Das Recht der Kinder auf Identität – sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität und Geschlechtsausdruck (SOGIE)

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Wenn Personen nach ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Geschlechtsidentität oder ihrem Geschlechtsausdruck (SOGIE) gefragt werden, beginnen sie ihre Erzählungen oft mit den Worten: „Ich wusste, dass ich anders bin (…)“ (Marques, 2020), was darauf hindeutet, dass die Gesellschaft uns sagt, dass es eine „normale“ Sexualität und Geschlechtsidentität gibt. Kinder wachsen meist in einem Umfeld auf, das ihnen Kategorien vermittelt, die für ihre SOGIE Standard sind.

Natürlich werden Kinder, deren Gefühle und Äußerungen nicht in diese Kategorien passen von Bildungseinrichtungen, Familien und der Gesundheitspolitik nicht berücksichtigt. Das ist eine erhebliche Belastung für die Gesundheit, das Wohlbefinden und die Entwicklung der Kinder. Das Gesetz muss den Bedürfnissen aller Kinder gerecht werden, unabhängig von sexueller Orientierung, Geschlechtsausdruck und Identität. Das Recht auf Identität, das in Artikel 8 der Konvention über die Rechte des Kindes (KRK) kodifiziert ist, kann und sollte das Recht der Kinder auf SOGIE fördern und alle möglichen Identitäten schützen.

Gesellschaftliche Zwänge in Bezug auf SOGIE

Eineder ersten Maßnahmen, die gegenüber dem Kind ergriffen werden, ist die Geschlechtszuweisung. Die Registrierung des Geschlechts ist obligatorisch und in den meisten Ländern gibt es nur zwei Optionen: männlich und weiblich (Brink & Tigchelaar, 2014)

Da die Geschlechtszuweisung normalweisebereits im Säuglingsalter erfolgt, wird sie ohne Rücksprache durchgeführt. In den meistens Umgebungen und Gesellschaften, in denen Kinder aufwachsen, geht die Zuweisung eines bestimmten Geschlechts mit gewissenErwartungen an die Verhaltensweisen und Handlungen der Kinder einher. (Dunne, 2018)

So wird von ihnen beispielsweise erwartet, dass sie bestimmte Kleidung tragen oder sich an die kulturellen Rollenanpassen, die mit „Mädchen“ oder „Junge“ verbunden sind. Ob sich Kinder in diesen Rollen und Verhaltensweisen wohl fühlen, wird oft nicht hinterfragt. Da von ihnen außerdem erwartet wird, dass sie sich mit dem zugewiesenen Geschlecht identifizieren, gibt es normalweise wenig Raum für ihre Entwicklung unabhängig von diesen gesellschaftlichen Vorstellungen. (Dunne, 2018)

Diskriminierung, Stigmatisierung und Gewalt gegen LGBTIQ+ Kinder

Kinder, die sich nicht mit dem zugewiesenen Geschlecht identifizieren, deren sexuelle Orientierung nicht heterosexuell ist oder deren Ausdrucksformen nicht den Geschlechtsstereotypen entsprechen (z.B. “Jungen sollten keine Kleider tragen“), sindhäufig Stigmatisierung, Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt (UNESCO, 2016). Diese Situationen werden im Alltag in der Schule, im familiären Umfeld und in der Gesundheitspolitik erlebt. (Committee, 2016)

Mehrere Studien zeigen, dass lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, intersexuelle, queere, ungeklärteund geschlechtsuntypische (LGTBIQ+) Kinder in Bildungseinrichtungen eher Gewalt ausgesetzt sind als ihre nicht-LGBTIQ+-Altersgenossen(UNESCO, 2016). Auch in ihrem familiären Umfelderleben Kinder, deren sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität oder -ausdruckvon der Mehrheit abweicht, Gewalt oder werden von ihren Familien abgelehnt. (Horn, Peter, & Russell, 2017). Misshandlung, Diskriminierung und Ablehnung von LGBTIQ+ Kinder können zu langfristigen gesundheitlichen Problemen, Obdachlosigkeit, sozialer Ausgrenzung und Armut führen (The CRC Committee et al., 2015).

Fehlender Schutz der SOGIE von Kindern im Rahmender KRK

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit die Kinderrechtskonvention (KRK), der am häufigsten ratifizierte Menschenrechtsvertrag, die Bedürfnisse von Kindernin Bezug auf SOGIE berücksichtigt. Ein Blick auf die Bestimmungen der KRK zeigt, dass es kein ausdrückliches Recht gibt, das dieSOGIE von Kindern schützt.Das Fehlen eines eindeutigen Schutzes in der Kinderrechtskonvention in Bezug auf Sexualität und Geschlecht gibt den Staaten die Möglichkeit, die Freiheit der Kinder, ihre SOGIE auszuleben, einzuschränken.

Mehrere Artikel der Konvention, wie die Freiheit der Meinungsäußerungund der Zugang zuInformationen, sowiedie Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit,  kodifizieren die Möglichkeit, die Rechte von Kindern aus moralischen oder anderen Gründen einzuschränken (Horn, Peter, & Russell, 2017). Häufig legen Staaten Begriffe wie „Moral“so aus, dass nur bestimmte Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen wie z.B. eine heterosexuelle Orientierung als „normal“ gelten. Die zweideutige Sprache der KRK ermöglicht es den Staaten daher, diskriminierende Gesetze und Maßnahmen gegen LGBTIQ+-Kinder zu rechtfertigen (Horn, Peter, & Russell, 2017). Infolgedessen ergibt sich die dringende Notwendigkeit, den Mangel an Schutz für LGBTIQ+-Kinder zu beheben.

Schritte nach vorn – Sicherung des Rechts auf Identität

Welches Recht könnte die Identität von Kindern in Bezug auf sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität und -ausdruck besser schützen als das Recht auf Identität, das in Artikel 8 derKinderrechtskonvention verankert ist?

Das Recht auf Identität besagt, dass die Identität des Kindes geschützt werden muss (KRK, Artikel 8). Gemäß Artikel 8 der KRK umfasst „Identität“ den Namen, die Staatsangehörigkeit und die familiären Beziehungen (KRK, Artikel 8). Das Wort „umfasst“ ermöglicht jedoch, dass auch andere Elemente von Artikel 8 geschützt werden können (Tobin, 2019). Der KRK-Ausschuss scheint Identität mehr und mehr als ein dynamisches Konzept zu verstehen, bei dem es auch darum geht, die Individualität von Kindern anzuerkennen und sie von Gleichaltrigen zu unterscheiden.

Dementsprechend müssen individuelle Sexualität und Geschlechtsidentität und -ausdruck als natürlicher Teil der Identität von Kindern im Rahmen des Rechts auf Identität geschützt werden (Sandberg, 2015). Folglich muss Kindern die Möglichkeit eingeräumt werden, sich in Bezug auf ihre sexuelle Orientierung, ihre Geschlechtsidentität und ihren Geschlechtsausdruck unabhängig zu entwickeln, was für ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden und ihre Identitätsfindung unbestreitbar notwendig ist.

Die Pflichten der Staaten bei der Unterstützung der Identitätsentwicklung von Kindern

Die Staaten müssen damit beginnen, demVerständnis von Identität, das ein Recht auf SOGIE einschließt, zu entsprechen. Ein solches Recht verbietet es ihnen, Begriffe wie „Moral“ in einer Weise auszulegen, die bestimmte Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten diskriminiert. Daher müssen die Staaten Gesetze abschaffen, die nur den Bedürfnissen bestimmter SOGIE gerecht werden.

Sie müssen angemessene Maßnahmen (wie die Verabschiedung von Gesetzen) ergreifen, um Kindern die Möglichkeit zu geben, ihre Identität zu entdecken, zu entwickeln, auszudrücken und zu genießen (Tobin, 2019).Zu den Pflichten der Staaten gehört beispielsweise die Anpassung von Schulsystemen, die Kinder aller sexuellen Orientierungen, Geschlechtsidentitäten und Ausdrucksformen aufnehmen.

Angesichts der sozialen Zwänge, die mit der Geschlechtszuweisung bei der Geburt einhergehen, sollten die Staaten auch die Gesetze ändern, die vorschreiben, dass das Geschlecht bei der Geburt festgelegt werden muss. Die Personen selbst sollten die Autonomie haben, ihr Geschlecht zu bestimmen, da es um ihre Identität geht. Wenn das Rechtssystem alle SOGIE erfasst, würde sich dies auch auf die Gesellschaft auswirken und den starken sozialen Druck und die Beschränkungen für LGBTIQ+-Kinder abmildern.

Wir von Humanium unterstützen LGBTIQ+ Kinder und Kinder aller SOGIE bei der freien Entfaltung ihrer Identität. Humanium arbeitet daran, eine Welt zu schaffen, in der all diese Rechte für Kinder respektiert werden und ihre Einzigartigkeit anerkannt wird. Sie können uns helfen, ein Bewusstsein für die Rechte von Kindern zu schaffen und Humanium bei seiner Arbeit unterstützen, indem Sie eine Patenschaft für ein Kind übernehmen, eine Spende machen, Mitglied werden oder sich freiwillig engagieren.

Geschrieben von Louisa Steffen

Übersetzt von Manon Issifou

Korrektur gelesen von Beate Dessewffy

Bibliographie:

Brink, M. v., &Tigchelaar, J. (2014). English Summary; M/F and beyond Gender Registration by the State and the Legal Position of Transgender Persons. Utrecht Centre for European Research into Family Law, accessed on 11 February 2022.

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Committee, C. (2016). General Comment No. 20: The Implementation of the Rights of the Child during Adolescence. UN Doc CRC/C/GC/20, accessed on 11 February 2022.

The CRC Committee et al., D. a. (2015, May 17 ). Discriminated and made vulnerable: Young LGBT and intersex people need recognition and protection of their rights International Day against Homophobia, Biphobia and Transphobia. Retrieved from United Nation, accessed on 11 February 2022.

Dunne, P. (2018). Towards Trans and Intersex Equality: Conflict or Complementarity? In J. M. Scherpe, A. Dutta, & T. Helms, The Legal Status of Intersex Persons (pp. 217-240). Intersentia, accessed on 9 February 2022.

Horn, S. S., Peter, C., & Russell, S. T. (2017). The Right to Be Who You Are. In M. D. Ruck, & M. Peterson-Badali, Handbook of Children’s Rights: Global and Multidisciplinary Perspectives (pp. 221-238), accessed on 9 February 2022.

Marques, A. C. (2020). Telling Stories; Telling Transgender Coming out Stories from the UK and Portugal. Gender, Place & Culture, 27, 1287-1307, accessed on 11 February 2022.

Sandberg, K. (2015). The Rights of LGBTI Children under the Convention on the Rights of the Child. Nordic Journal of Human Rights, 33(4), 337-352, accessed on 11 February 2022.

Tobin, J. (2019). The UN Convention on the Rights of the Child: A Commentary. Oxford University Press, accessed on 3 February 2022.

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