Bildung in Marokko: zwischen Vergessen und Hoffen

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Bildung ist in einem Land ein Pfeiler für die Entwicklung einer Gesellschaft und die kleinste Nachlässigkeit kann alarmierende Folgen für das Wohlergehen der Kinder und ihrer Zukunft haben. So hat der Rechnungshof des Königreichs Marokko 2017 einen Bericht veröffentlicht, in dem einige Lücken des Schulsystems aufgezeigt werden: Mangel an Lehrkräften, überfüllte Klassen, renovierungsbedürftige Klassenzimmer und Räume in den Schulen.

Diese Probleme sind sehr oft aneinander gekoppelt, doch parallel dazu kann man seit einigen Jahren eine Erneuerung des Schulsystems erleben, das von nicht-formalem Lernen ausgeht. Dieses nicht-formale Lernen greift in mehreren schulischen, kulturellen und künstlerischen Bereichen und passt sich den vorherrschenden Problemen der Bildung im Königreich an.

 

Ein Bildungssystem in Gefahr

Obwohl der marokkanische Staat 25 % seines Budgets in Bildung investiert und laut der UNESCO zwischen 2015 und 2030 eine „strategische Vision der Bildungsreform“ anstrebt, gehört Marokko zu den „25 Ländern, die in Sachen Einschulung am meisten hinterherhinken.“

Tatsächlich steht die Schulbildung in Marokko vor ernsthaften Problemen, die vom obersten Rat für Bildung, Ausbildung und wissenschaftliche Forschung massiv hervorgehoben wurden. Es wird insbesondere das niedrige Bildungsniveau der Schüler in den weiterführenden Schulen in Sprachen und Mathematik angeprangert.

Außerdem wurde in reichen Familie eine Vorliebe für Privatschulen ausgemacht, während 98 % der Schüler der weiterführenden, öffentlichen Schulen aus armen Familien oder aus der Mittelschicht stammen. Der allgemein schlechte Zustand der Klassenzimmer und der Schulen führte zur Schließung von 9.000 Klassenzimmern und über 1.000 Schulen. Einige Einrichtungen sind weder an das Abwassersystem, noch an die Wasser- und Stromversorgung angeschlossen.

Zusätzlich zu dieser Verwahrlosung kann man einen akuten Mangel an Lehrkräften feststellen, was zur Überlastung der Klassen führt. Durchschnittlich, so schätzt man, gibt es 40 Schüler pro Klasse, während der Durchschnitt in den Mitgliedsländern der OECD bei 20 Schülern pro Klasse liegt. Der Lehrkräftemangel führt auch zur Streichung mancher Lehrfächer. Alle diese Gründe begünstigen den Schulabbruch.

Während das marokkanische Bildungssystem sicherlich Lücken aufweist, ist man dagegen dankbar für das Engagement der marokkanischen Zivilbevölkerung, damit Kinder wieder hoffen können.

 

Der Ausbau des „nicht-formalen“ Lernens als unverzichtbares Instrument schulischer Integration

Kinder, die die Schule abgebrochen oder sich ausgeklinkt haben, können die nicht-formale Bildung nutzen. Nicht-formales Lernen oder nicht-formale Bildung geht oft von Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) aus, von Religionsgemeinschaften oder sogar Startups, die Kurse parallel und zusätzlich zum nationalen Bildungssystem anbieten. Am Ende des Programms können Kinder mit dem entsprechenden Niveau wieder in die normale nationale Bildung einsteigen. Die anderen können ihren Werdegang in der nicht-formalen Bildung weitergehen.

In Marokko herrscht seit einigen Jahren der starke Wille seitens der Zivilbevölkerung vor, über nicht-formales Lernen insbesondere im Umfeld von Startups wieder Spaß am Lernen zu vermitteln.

Dies ist beispielsweise der Fall von Yassine Ettayal, Mitbegründer der Organisation Educall. Seine Vision ist „die schulische Bildung von Kindern zu fördern, unabhängig von den sozialen Schichten und anhand von Programmen und Aktivitäten.“ Ursprünglich konzentrierte sich das Startup auf zwei Bereiche: Aktivitäten im Bereich des Zentrums und Programme mit Waisenkindern. Dann, ab Juni 2017 beschloss man, sich ausschließlich auf das Zentrum Lalla Meriem zu konzentrieren, in dem Kinder untergebracht sind, die die Schule abgebrochen haben und keine Familie hinter sich haben. Yassine Ettayal führt aus, dass „der Gedanke hinter dieser Zusammenarbeit die Einführung eines Programms mit Aktivitäten ist, das anschließend in ganz Marokko Anwendung finden soll.“

Educall basiert auf 2 Hauptprogrammen. Das erste heißt „Ancrage“ (Verankerung), richtet sich am konventionellen Schulplan aus und besteht darin, mit den Kenntnissen und Kompetenzen der Kinder zu arbeiten und zwar mit Unterstützung von Tools für spielerisches Lernen, das heißt mit spielerischer Pädagogik.

Das zweite heißt „Enclore“ (Befrieden) und hat die Weiterentwicklung der Kinder zum Ziel. Es geht in verschiedenen Phasen über das Programm Ancrage hinaus. Im Programm Enclore werden Themen wie Wissenschaft/Technologie, Kunst/Kultur und Kommunikation angegangen und es werden besondere Programme, wie beispielsweise die Summer School angeboten. Dort werden mehrere Aktivitäten und Themen angeboten wie zum Beispiel: She Can/Girls Empowerment Program mit dem hauptsächlich Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren angesprochen werden und dessen Ziel die Stärkung des Selbstvertrauens ist. Sie sollen sich finden, ihre Identität erkennen, Vorurteile überwinden und an ihrer Rolle als Pfeiler der Gesellschaft arbeiten: „Was beispielsweise an diesem Programm interessant ist, ist die Auswirkung, die es auf die Mädchen hat. Nach mehrtägigen Aktivitäten stellten wir fest, dass sich die Mädchen verändert hatten; ihre Mentalität, ihre Art zu denken, ihre Art sich als Mädchen zu sehen. Wir haben ihnen gesagt, dass sie an das glauben sollen, was sie möchten, dass sie negative Kommentare nicht beachten sollen, und dass sie das tun sollen, was sie tun möchten.“

 

Den Kindern wieder das Recht zum Träumen geben

„Im Bildungswesen in Marokko lässt sich feststellen, dass jeder zum Akteur geworden ist und jeder die Dinge ändern und die Nation weiterbringen kann. Wir sollten alle zusammenarbeiten: die Eltern, die Lehrer, die schulischen Einrichtungen, die Institutionen, die Ministerien – jeder hat wirkliche seine ganz besondere Rolle. Diese ganzen Komponenten müssen in die Bildung einfließen und die Schulen müssen zu einem Ort werden, an dem sich die Kinder wiederfinden können, ein Ort, den sie zu ihrem machen, damit sie kreativ sein und mehrere Elemente entdecken können, um ihre Wünsche weiterzuentwickeln.“

„Es ist mein Wunsch, dass marokkanische Kinder ein Recht darauf haben, träumen zu dürfen, denn das Ziel ist es, Kinder zum Träumen zu bringen. Über die Erfahrung mit Educall haben wir festgestellt, dass Kinder viele Träume haben, die ihnen durch den Kopf gehen. Und einige Jahre später kann es zu einer katastrophalen Ruhe kommen, weil es dem Kind nicht mehr gelingt, sich in die Zukunft hineinzudenken, daher sollte man es in seinen Träumen nicht ausbremsen. Das habe ich bei Kindern festgestellt und die Tatsache, sich in die Zukunft versetzen zu können, ermöglicht ihnen die Entwicklung ihrer Leidenschaften und sie können Ziele erreichen. Das brauchen wir in Marokko. Es darf nicht sein, dass ein Kind in jungen Jahren damit beginnt, an Einschränkungen zu denken.

Und als Eltern muss man diese Übung mit den Kindern machen, muss sie zum Träumen ermutigen, sie mit Situationen konfrontieren, in denen sie ihre Leidenschaften entdecken können. Denn ich glaube, wenn Erziehung der Schlüssel zum Fortschritt ist, so ist die Leidenschaft der Schlüssel zur Entwicklung, zu intellektuellem Reichtum. Denn arbeitet man mit den Leidenschaften der Kinder, können sie sich im Erwachsenenalter umso besser entfalten.“

 

 

Geschrieben von Eddy Malouli

Übersetzt von Andrea Wurth

 

Quellen

http://www.leseco.ma/decryptages/evenements/58319-de-multiples-dysfonctionnements-entachent-l-organisation-scolaire.html

https://www.huffpostmaghreb.com/2017/06/19/education-maroc-classes-surchargees-rapport-accablant-cour-des-comptes_n_17204732.html