Bekämpfen von Kinderheirat innerhalb der Roma-Bevölkerung in Osteuropa

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Trotz weltweiter Fortschritte dank internationaler Bemühungen zur Abschaffung von Kinderehen, sind diese immer noch für viele Kinder Realität, und Roma-Kinder sind da keine Ausnahme. Jahrzehntelange ethnische Marginalisierung, Armut, tief verwurzelte Stereotypen über Sexualität sowie die gesellschaftliche Rolle von Frauen und Mädchen, kombiniert mit dem Fehlen eines systematischen Ansatzes zur Integration der Roma-Bevölkerung in die lokalen Gemeinschaften haben dazu geführt, dass die Kinderehe in Osteuropa immer noch praktiziert wird. Ungeachtet der Kultur dürfen diese Ehen nicht als Teil der Tradition betrachtet werden, sondern vielmehr als ein schädlicher Verstoß gegen die Menschenrechte und die Rechte des Kindes, die sich außerhalb jeglicher Kultur positioniert.

Statistiken zu Kinderehen unter der Roma-Bevölkerung in Osteuropa

Obwohl Kinderheirat als Phänomen in allen osteuropäischen Ländern, einschließlich der Balkanländer, vorkommt, reichen Beispiele einiger Länder zur Ausmaßerfassung des Problems aus. Früheren Berichten von Save the Children zufolge wurden in Rumänien, wo die Roma-Bevölkerung 8,3 % der Bevölkerung ausmacht, 6,7 % aller Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren verheiratet (Marica, 2017). 

Dieselbe Quelle zeigt, dass weitere osteuropäische Länder ähnliche Zahlen vorweisen: In Moldawien liegt der Prozentsatz bei 9,9 %, in der Ukraine bei 6,4 %, in Albanien bei 6,5 %, in Belarus bei 7,5 % und in Bulgarien bei 8,4 %. Im Vergleich dazu lag der europäische Durchschnitt zur gleichen Zeit bei etwa 2 % (Marica, 2017).

In Serbien ist die Kinderheirat ein Phänomen, von dem mehr als 50 % der Roma-Mädchen unter 18 Jahren betroffen sind (Luković et al., 2023). Noch verheerender ist die Tatsache, dass 16 % der Roma-Mädchen vor ihrem 15. Geburtstag verheiratet werden und 5 % im selben Alter ein Kind bekommen (Antonijević, 2023). In Bosnien und Herzegowina heiraten fünf von zehn Roma-Mädchen und zwei von zehn Roma-Jungen vor ihrem 18. Geburtstag (Beker, 2019).

Frühere britische Quellen zufolge werden sogar Mädchen im Alter von 12 und 13 Jahren regelmäßig in Rumänien, Bulgarien und Ungarn verheiratet, bevor sie nach Großbritannien gebracht und oft Opfer von Kinderhandel und Missbrauch werden. (Baker, 2019)

Rechtliche Realität: Kinderheiraten unter den Roma

Wie bereits erwähnt: Kinderehen sind unter den Roma rechtlich nicht zu vertreten, wenngleich über sie jahrzehntelang als Teil der Kultur und Tradition hinweggesehen wurde. Minderjährige können keine volle Zustimmung geben, außer in einigen Ländern und in besonderen Fällen, in denen ein Kind im Alter von 16 Jahren auf der Grundlage eines ärztlichen Gutachtens, mit der Zustimmung seiner Eltern oder Erziehungsberechtigten und mit Genehmigung des Gerichts eine Ehe eingehen kann (Marica, 2017). Vor diesem Hintergrund ist die Einführung strengerer gesetzlicher Maßnahmen und die Durchsetzung bestehender Maßnahmen juristisch vollkommen gerechtfertigt.

Eine der jüngsten positiven Veränderungen ist die serbische Initiative, Kinderheiraten als eine Form des Menschenhandels zu bezeichnen, was dem Staat die Möglichkeit gibt, diese schädliche Praxis auf einer höheren Ebene zu bekämpfen (Antonijević, 2023). Eines der Probleme besteht jedoch darin, dass die Roma-Bevölkerung häufig außerhalb der Rechtssysteme der lokalen Gemeinschaften lebt, was die Verfolgung von Kinderehen sehr viel schwieriger macht und eine intensive Arbeit vor Ort erfordert. In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung, die lokalen Roma-Gemeinschaften rechtlich sichtbar zu machen.

Die Rolle der Armut bei der Verheiratung von Kindern innerhalb der Roma-Bevölkerung

Ein Großteil der Roma-Bevölkerung in Osteuropa leidet immer noch unter Diskriminierung und Isolation. Es überrascht nicht, dass Kinder, vor allem junge Mädchen, die Schwächsten in dieser Gruppe sind. Da viele dieser Kinder keine offiziellen Dokumente besitzen, sind sie für das staatliche und rechtliche System unsichtbar und können daher ihre Rechte auf Gesundheit, Schutz und Bildung nicht wahrnehmen. Folglich kann die über Generationen hinweg bestehende Kette von Vernachlässigung, Missbrauch und völliger Armut nicht durchbrochen werden. 

Unter diesen Umständen wird die Verheiratung einer Tochter für eine Familie oft als Möglichkeit gesehen, die Zahl der zu ernährenden Personen zu verringern, da ihre Jungfräulichkeit das einzige Tauschmittel für Familien darstellt, die keinen materiellen Besitz haben. Für einige ist es auch ein Weg, der Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen, das sie in einer neuen Familie möglicherweise haben könnte (Unicef, n.d.).

Andererseits sind die Familien bestrebt, ihre Söhne zu verheiraten, um die Familie fortzuführen oder sogar zusätzliche Arbeitskräfte zu gewinnen, die das Überleben der Familie sichern. In Verbindung mit dem oft vollständigen Mangel an Bildung und dem jahrzehntelangen Ausbleiben systematischer Maßnahmen seitens zuständiger Regierungen sowie der Tradition, wonach die Heirat mit einer Jungfrau ein Muss ist, ist die Bekämpfung der Kinderheirat ein schwieriges und komplexes Thema (Human Rights Fund Progress, 2017).

Den Kreislauf durchbrechen: Die Macht der Bildung beim Beenden der Kinderheirat

Im Durchschnitt sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag heiratet, um 6 % für jedes zusätzliche Jahr, das sie die Sekundarschule besucht (Girls Not Brides, n.d.). Die Ergebnisse einer in Äthiopien durchgeführten Studie zeigen, dass Mädchen gebildeter Mütter nur mit einer halb so hohen Wahrscheinlichkeit vor ihrem 18. Geburtstag heiraten (Rodriguez, 2022).

Allein diese Statistiken machen deutlich, dass Bildung der Schlüsselfaktor im Kampf gegen Kinderheirat ist. Die jahrelange Bewältigung des sozialen und wirtschaftlichen Übergangs und der sektoralen Reformen, die die meisten osteuropäischen Länder durchlaufen haben, hat jedoch dazu geführt, dass die Rechte und Bedürfnisse der Roma-Kinder übersehen und vernachlässigt wurden (Unicef, 2011).

Da die Kinder aus Familien stammen, in denen die Eltern keine oder nur eine unzureichende Schulbildung erhalten haben und ihre Geburten oft überhaupt nicht registriert werden, haben sie nur geringe Chancen, selbst in Kindergärten und Grundschulen aufgenommen zu werden.

Selbst wenn sie das schaffen, haben sie in der Schule mit Ausgrenzung zu kämpfen, die eng mit dem schlechten wirtschaftlichen Status ihrer Familien zusammenhängt, mit der mangelnden Sensibilität für ihren kulturellen und sprachlichen Hintergrund, aber auch mit dem Fehlen einer standardisierten Schriftsprache, die in ihren Gemeinschaften verwendet wird, sowie mit dem Mangel an Personal in Bildungseinrichtungen, das für die Arbeit an multikulturellen Schulen oder Schulen, die auf die Arbeit mit diesen Kindern spezialisiert sind, qualifiziert ist (Unicef, 2011). 

Aufnahme von Roma-Kindern in die Schule: Herausforderungen und Initiativen

Im Jahr 2005 wurde die Initiative „Decade of Roma Inclusion“ (Jahrzehnt der Integration der Roma) ins Leben gerufen: Bulgarien, Kroatien, die Tschechische Republik, Ungarn, Montenegro, Rumänien, Serbien, die Slowakei und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien (wie sie damals noch hieß) sowie das heutige Nordmazedonien unterzeichneten die Decade Declaration. Das offizielle Ziel war es, auf die Beseitigung der Diskriminierung und die Einbeziehung der Roma in das reguläre soziale System der Länder hinzuarbeiten (UN-Chronik, n.d.). 

Die Initiative erkannte an, wie wichtig es ist, den Zugang zur Pflichtschulbildung zu gewährleisten, die Qualität der Bildung zu verbessern, Integration und Desegregation umzusetzen und den Zugang zur Vorschulbildung sowie zur Sekundar-, Hochschul- und Erwachsenenbildung zu erweitern (Decade of Roma Inclusion, 2005). In allen Unterzeichnerländern wurden zahlreiche Projekte durchgeführt. Obwohl die Alphabetisierung zu den größten Erfolgen gehörte, sind vorzeitige Schulabbrüche und die geringe Beteiligung an der Sekundarschulbildung nach wie vor ernste Probleme, die kontinuierliche Anstrengungen erfordern. 

Die Bemühungen in diesem Bereich wurden auch nach dem Jahrzehnt der Roma-Integration fortgesetzt, wie die Beispiele Rumäniens zeigen, wo die jüngsten nationalen Reformen im Schulwesen die Bedeutung des Zugangs von Roma-Schülern zum Gymnasium, die Zulassung von Bewerbern auf spezielle Stellen für Roma in öffentlichen Gymnasien und die Organisation der beruflichen/dualen Berufsausbildung vorsehen (Eurydice, 2023), oder Serbiens, wo 2021 Bildung als einer der beiden wichtigsten Bereiche für die soziale Eingliederung der Roma bezeichnet wurde (Social Inclusion and Poverty Reduction Unite, 2021). Dennoch zeigt sich, dass in der Praxis mehr getan werden muss.

Fortschritt und Beharrlichkeit: Was getan wurde und wie es weitergehen soll

Im Kampf gegen die Kinderheirat unter der Roma-Bevölkerung in Osteuropa, einschließlich des Balkans, wurden erhebliche Fortschritte erzielt, und Humanium hält die Veränderungen für vielversprechend. In einigen Ländern wurden strengere Gesetze eingeführt, und im Laufe der Jahre wurden zahlreiche Projekte ins Leben gerufen, die darauf abzielen, junge Roma in lokale Gemeinschaften zu integrieren und ihnen Zugang zu hochwertiger Bildung und Stellenangebote zu verschaffen.

Die Situation vor Ort macht jedoch deutlich, dass mehr Anstrengungen unternommen werden müssen, um Kinderehen zu bekämpfen: Tausende von Kindern werden ihrer Kindheit sowie jeder Chance auf ein gesundes Leben beraubt. Da es sich um ein komplexes, vielschichtiges Problem handelt, sind ein ganzheitlicher Ansatz, harte Arbeit und Beharrlichkeit erforderlich. Die Regierungen müssen ihre eigenen Gesetze in die Praxis umsetzen und an der Änderung bestehender Gesetze arbeiten, um die notwendigen finanziellen und sozialen Voraussetzungen zu schaffen, damit der Verletzung grundlegender Menschen- und Kinderrechte ein Ende gesetzt werden kann. 

Gleichzeitig sollten Unternehmen, Organisationen und Einzelpersonen ermutigt werden, auf eine für sie geeigneten Weise zur Lösung des Problems beizutragen. Schließlich, und das ist oft das Wichtigste, darf der Einzelne im Alltag nicht die Augen vor der Not der Roma-Kinder verschließen, denn Integration – ein wesentliches Element bei der Bekämpfung des Problems – ist keine Einbahnstraße.

Humanium setzt sich weiterhin für die Wahrung der Menschenrechte von Kindern ein, einschließlich ihres Rechts auf Bildung, auf Schutz und auf Freiheit. Wenn Sie die Arbeit von Humanium unterstützen möchten, denken Sie bitte über eine Spende, eine ehrenamtliche Tätigkeit oder eine Mitgliedschaft nach.

Geschrieben von Zeljka Mazinjanin

Übersetzt von Daniel Rottleb

Korrekturgelesen von Jana Ruf

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