Anhaltend und schädlich —  Kinderehe in Vietnam

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Die weit verbreitete und schädliche Praxis der Kinderehe ist leider kein Novum und betrifft Kinder und junge Mädchen Vietnams anhaltend. Armut, ungleich verteilter Zugang zu Bildung, soziale Gegebenheiten, Geschlechternormen, schädliche Praktiken, ethnische Zugehörigkeit und Brauthandel sind die nachgewiesenen Hauptursachen für die anhaltende Praxis der Kinderehe in Vietnam. Humanium fordert eine landesweite Politik zur Beseitigung von sowohl Geschlechterungleichheit als auch ethnischer Ausgrenzung, um sicherzustellen, dass alle Mädchen in Vietnam gleichen Schutz und gleiche Chancen erhalten.

Kinderehe und Geschlechterungleichheit – eine völkerrechtliche Definition 

Laut dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) ist Kinderehe definiert als „jede formelle Ehe oder informelle Vereinigung zwischen einem Kind unter 18 Jahren und einem Erwachsenen oder einem anderen Kind“ (UNICEF, o.D.). Es wird davon ausgegangen, dass Kinderehen aufgrund der Geschlechterungleicheit überproportional Mädchen betreffen (UNICEF, o.D.).

Geschlechterungleichheit wird definiert als „Diskriminierung aufgrund des sozialen oder biologischen Geschlechts, die dazu führt, dass ein soziales oder biologisches Geschlecht wiederholt gegenüber einem anderen bevorzugt oder priorisiert wird“ (Save the Children, o.D.). Infolgedessen wird heute weltweit etwa jedes fünfte Mädchen vor dem 18. Lebensjahr verheiratet, während „die Prävalenz der Kinderehe bei Jungen nur ein Sechstel derjenigen bei Mädchen beträgt“ (UNICEF, o.D.).

Laut Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) und UNICEF gibt es 4 Arten von Kinderehe (UNICEF & UNFPA, 2018):

  • Von der Familie arrangierte Ehen – Kinderehe kann als Tradition angesehen werden und „ist oft mit Früharbeit verbunden“, was bedeutet, dass „arme Familien Kinder verheiraten, um sie als Familienarbeitskraft einzubinden (z. B. in der Hausarbeit oder Landarbeit)“ (UNICEF & UNFPA, 2018).
  • Liebesheiraten – junge Paare würden „die Schule abbrechen, um zu heiraten, oder unregistriert zusammenziehen, um Geldstrafen zu vermeiden“ (UNICEF & UNFPA, 2018).
  • Heirat als „Reaktion auf Schwangerschaft“ – „frühe Schwangerschaft führt zu Kinderehe, um die mit vorehelichem Sex verbundene Schande zu vermeiden“ (UNICEF & UNFPA, 2018).
  • Brautentführung/-handel – Mädchen werden ohne ihre Zustimmung entführt und/oder nach China zum Zweck der Zwangsheirat verkauft (UNICEF & UNFPA, 2018).

Die Sozialistische Republik Vietnam — Pflichten unter internationalem Recht

Vietnam spielt eine wichtige Rolle auf der internationalen Bühne. Bemerkenswerterweise hat Vietnam mehrere internationale Konventionen ratifiziert, wie die UN-Kinderrechtskonvention (CRC) von 1990 und die UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) von 1982 (United Nations Human Rights, o.D.). Dementsprechend legt der Ausschuss für Kinderrechte ein Mindestheiratsalter von 18 Jahren fest (UN Committee on the Rights of the Child, 2003), und die CEDAW verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, die freie und vollständige Zustimmung zur Eheschließung sicherzustellen (Documents – CEDAW, 1981).

Die vietnamesische Regierung hat im Juni 2000 das Familien- und Ehegesetz erlassen, welches das gesetzliche Mindestheiratsalter für Frauen ausnahmslos auf 18 Jahre festlegt (National Assembly of Vietnam, 2000), und außerdem das Strafgesetzbuch im Jahr 2018 überarbeitet, das nun den Schutz von Kindern stärkt und strengere Strafen für Kinderehen und Kinderhandel vorsieht (Vietnam Ministry of Foreign Affairs, 2018).

Zusätzlich hat sich Vietnam gemäß den von den Vereinten Nationen festgelegten Zielen für nachhaltige Entwicklung dazu verpflichtet, „Frühverheiratung und alle Formen geschlechtsspezifischer Gewalt“ bis 2030 zu beseitigen (Vietnam Ministry of Planning and Investment, 2018). Darüber hinaus hat sich Vietnam der ASEAN-Erklärung zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Gewalt gegen Kinder (2013) verpflichtet, die „die Bedeutung verstärkter Anstrengungen der ASEAN zum Schutz von Kindern vor allen Formen von Gewalt, einschließlich der Frühverheiratung, anerkennt“ (Girls Not Brides, o.D.). 

Hauptursachen für Kinderehe in Vietnam

Die Hauptursachen für die anhaltende Praxis der Kinderehen in Vietnam sind die folgenden:

  • Armut: Kinder verarmter Haushalte oder Familien werden gezwungen, vor dem 18. Lebensjahr in die reichsten Haushalte zu heiraten, um das wirtschaftliche Überleben ihrer Familien zu sichern (Girls Not Brides, o.D.).
  • Ungleicher Bildungszugang: Er spielt „eine wichtige Rolle bei der Verbreitung  von Kinderehe“, sodass „Mädchen ohne Bildung fast siebenmal häufiger im Kindesalter heiraten als diejenigen, die eine höhere Sekundarschulbildung abgeschlossen haben“ (UNICEF & UNFPA, 2018). Tatsächlich „waren 33% aller Frauen ohne Schulbildung vor dem 18. Lebensjahr verheiratet, verglichen mit nur 1% der Frauen, die eine Hochschulbildung abgeschlossen hatten“ (Girls Not Brides, o.D.).
  • Sozialer Kontext: Kinder können „strukturellen Zwängen ausgesetzt sein, wie z.B. sozialen Normen, welche die Erwartungen an sie bestimmen, oder dem Fehlen einer hochwertigen Ausbildung und von Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb der Landwirtschaft“. Aufgrund der sozialen Stigmatisierung vorehelicher Schwangerschaften kann Kinderehe „als Lösung für eine ungewollte Schwangerschaft eines Mädchens genutzt werden, um die ‚Ehre‘ des Mädchens und ihrer Familie zu schützen“ (UNICEF & UNFPA, 2018). Berichten zufolge heiraten einige Mädchen tatsächlich, „weil sie Angst davor haben, außerhalb einer Ehe schwanger zu werden und die strengen vietnamesischen sozialen Normen zu verletzen“ (Girls Not Brides, o.D.).
  • Geschlechtsnormen: Vietnamesische Frauen und Mädchen werden „traditionell als ‚minderwertig‘ angesehen und es wird erwartet, dass sie vorgeschriebene Rollen im häuslichen Bereich als Ehefrauen, Mütter und Töchter übernehmen; ihr Status hängt eng mit diesen Rollen zusammen“, was „die Chancen eines Mädchens bezüglich ihrer Bildung, dem Zugang zu Gesundheitsdiensten des sexuellen Sektors und Fortpflanzungsbereiches, sowie ihre Entscheidungsbefugnis und Kontrolle über ihre Mittel negativ beeinflusst. Dies verschärft letztendlich die Prävalenz von Kinderehen“ (UNICEF & UNFPA, 2018).
  • Schädliche Praktiken: Vietnam pflegt immer noch „einen langjährigen, traditionellen  Brauch, bei dem Eltern Ehen für ihre Kinder arrangieren“ (Girls Not Brides, o.D.). Obwohl das Familien- und Ehegesetz vom Juni 2000 das gesetzliche Heiratsalter für Frauen auf 18 Jahre festlegt, „erlauben traditionelle und gewohnheitsrechtliche Gesetze auf staatlicher und kommunaler Ebene immer noch die Ehe von Mädchen unter 18 Jahren mit Zustimmung der Eltern und anderer Behörden“ (UNFPA Vietnam, 2016).
  • Ethnizität: Kinderheirat ist „in Berggebieten stark konzentriert, insbesondere unter ethnischen Minderheiten (namentlich den Hmong, Xinh Mun, La Ha, Gia Rai, Raglay und Bru-Van Kieu) in den nördlichen Bergen“ (Girls Not Brides, o.D.).
  • Brauthandel: Vietnamesische Mädchen werden entführt, gehandelt und Berichten zufolge aufgrund des Geschlechterungleichgewichts in China als Ehefrauen an chinesische Männer verkauft (Girls Not Brides, n.d.).

Regionale Raten in Vietnam und Raten von Kinderehe in ethnischen Gruppen

Während Kinderehen leider weltweit vorkommen, unterscheiden sich die zugrunde liegenden Ursachen von Land zu Land. In Vietnam werden die regionalen Raten wie folgt angegeben: Nördliche Mittelländer and Bergregionen mit 18,8%, Red River-Delta mit 7,9%, Zentrale Nord- und Küstengebiete mit 8,5%, Zentrales Hochland mit 15,8 %, Südlicher Osten mit 7,8%, und Mekong River Delta mit 13,8% (UNICEF & UNFPA, 2018).

Kinderheirat wird oft als ein Problem dargestellt, das tief in traditionellen Normen und Praktiken ethnischer Minderheiten in Vietnam verwurzelt ist (UNICEF & UNFPA, 2018). Es gibt neben der  mehrheitsstellenden Kinh-Bevölkerung 53 ethnische Gruppen in Vietnam. Die ethnische Kultur in Vietnam ist nicht monolithisch und Kinderehe wird nicht in allen ethnischen Kulturen praktiziert (UNICEF & UNFPA, 2018). Obwohl belegt ist, dass ein Kind, welches zwangsverheiratet wird, wahrscheinlich einer der ethnischen Minderheiten in Vietnam angehört (23,1%), wurde dennoch ein „signifikanter Prozentsatz der Kinh-Frauen (9,2%) vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet“ ( UNICEF & UNFPA, 2018).

Ein wichtiges Verständnis ist: Ethnische Bräuche sind nicht die Ursache für Kinderehen in Vietnam. Wie oben erwähnt, gibt es verschiedene Gründe, die die Praxis der Kinderheirat verschärfen, wie etwa Geschlechterungleichheit, Armut und mangelnder Bildungszugang. Kinderehe ist tief in kulturellen Praktiken und Geschlechternormen verwurzelt, die das ganze Land betreffen, und können nicht nur mit ethnischen Gruppen in Verbindung gebracht werden.

Noch wichtiger ist, dass die Darstellung junger Mädchen und Frauen als von patriarchalischen Normen und Bräuchen unterdrückt nur „die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern verstärkt, die einer der treibenden Faktoren für Kinderheirat ist“ (UNICEF & UNFPA, 2018). Grundsätzlich besteht ein unbedingter Bedarf an „einem besseren Verständnis für kulturelle Normen und Praktiken, die (…) dazu beitragen können, Kinderheirat zu verhindern“ (UNICEF & UNFPA, 2018). 

Förderung der Geschlechtergleichstellung um Kinderheirat in Vietnam zu beenden

Während mehrerer regelmäßiger internationaler Überprüfungen und verschiedener internationaler Gipfel ist Vietnam transparent geblieben. Vietnam hat “die Schwierigkeiten bei der Beendigung von Kinderheirat in ethnischen Gemeinschaften anerkannt und sich bereit erklärt, die Empfehlungen zu weiteren Maßnahmen zur Verhinderung dieser Praxis zu prüfen und das Gesetz zu Ehe und Familie zu überarbeiten, um ein einheitliches Mindestalter für Eheschließung für Frauen und Männer festzulegen“, während es sich weiterhin „verpflichtet, seine Bemühungen zu intensivieren und ausreichende Mittel bereitzustellen, um sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt, zu beenden, einschließlich null Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratungen, durch evidenz- und menschenrechtsbasierte Maßnahmen und Richtlinien“ (Girls Not Brides, o.D.). 

Humanium hält die Bemühungen Vietnams zur Bekämpfung der Praxis der Kinderheirat für vielversprechend. Ein integrativerer Ansatz, der die ethnischen Minderheiten Vietnams entstigmatisiert und demarginalisiert, wäre jedoch vorteilhaft und würde Ergebnisse bringen, da er es ermöglichen würde, alle Mädchen in Vietnam durch ein nationales Konzept zu schützen. Humanium engagiert sich weiterhin für die Wahrung der Menschenrechte von Kindern, einschließlich ihres Rechts auf Bildung, ihres Rechts auf Schutz und ihrer Fortpflanzungsrechte. Wenn Sie Humanium helfen möchten, erwägen Sie bitte, eine Spende zu leisten, sich ehrenamtlich zu engagieren oder Mitglied zu werden.

Geschrieben von Moïra Phuöng Van de Poël

Übersetzt von Daniel Rottleb

Korrektur gelesen von Beate Dessewffy

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