Entgegen der verbreiteten Meinung findet die Mehrzahl der Entführungen durch die Eltern statt. Kindesentführungen durch einen Elternteil sind auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen, die in den meisten Fällen auf sich verschlechternden Beziehungen, insbesondere bei internationalen Partnern, basieren. Infolgedessen sind Kinder in solchen Szenarien die am meisten gefährdete Gruppe, die abrupte Umbrüche mit minimalen Aussichten auf eine Rückkehr ins Herkunftsland ertragen muss und somit nicht in eine stabile, für ihre mentale Gesundheit förderliche Umgebung, die dienen würde, zurückkehren kann.

Formen internationaler Kindesentführung durch einen Elternteil
Internationale Kindesentführung durch einen Elternteil manifestiert sich in zwei Formen: widerrechtliches Verbringen und widerrechtliches Zurückhalten. Von einer widerrechtlichen Verbringung spricht man, wenn ein Kind ohne die Zustimmung beider Eltern oder ohne eine gerichtliche Anordnung aus seinem Heimatland verbracht wird.
Ein widerrechtliches Zurückhalten liegt vor, wenn beide Eltern zustimmen, dass das Kind für einen kurzen Zeitraum das Land verlässt, zum Beispiel für einen Urlaub, das Kind jedoch nicht wie vereinbart zurückkommt. In den meisten Rechtssystemen wird nur die widerrechtliche Verbringung als Straftat angesehen (Reunite International, o.D.).
Ein widerrechtliches Verbringen, welches auch als Kindesentführung durch einen Elternteil bezeichnet wird, liegt dann vor, wenn ein Kind illegal aus seinem Heimatland verbracht oder ausserhalb seines Heimatlandes festgehalten wird, und dadurch das Sorgerecht des anderen Elternteils oder des Erziehungsberechtigten verletzt wird. Diese Tat verstösst gegen bestehende Sorgerechtsvereinbarungen und führt oft zu komplizierten rechtlichen und diplomatischen Problemen, da sie die Gesetze und Behörden mehrerer Länder tangiert (United States Department of State, o.D.).
Das Haager Übereinkommen und rechtliche Rahmenbedingungen
Dem Haager Übereinkommen über internationale Kindesentführung zufolge müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, um einen Anspruch auf internationale Kindesentführung geltend machen zu können. Ein zentrales Element ist das Alter des Kindes; das Übereinkommen findet nur dann Anwendung, wenn das Kind unter 16 Jahre alt ist (Artikel 4 des Haager Übereinkommens). Auch wenn das Kind zum Zeitpunkt des widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens unter 16 Jahre alt war, verliert das Übereinkommen seine Gültigkeit, sobald das Kind 16 Jahre alt wird.
Dies steht im Gegensatz zur Kinderrechtskonvention, die jede Person unter 18 Jahren als Kind betrachtet, was zu rechtlichen Konflikten und Herausforderungen in Fällen von internationaler Kindesentführung führt. Weitere notwendige Elemente sind, dass das Kind unmittelbar vor der Verletzung des Sorgerechts seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat in einem Vertragsstaat des Übereinkommens hat und dass das Kind widerrechtlich in einen anderen Vertragsstaat verbracht oder zurückgehalten wurde.
Um diese Komplexität zu behwältigen, führt die National Incidence Studies of Missing, Abducted, Runaway, and Thrownaway Children (NISMART) im Rahmen ihres Mandats gemäss dem Missing Children’s Assistance Act von 1984 Erhebungen zur Strafverfolgung durch. Dieses Gesetz verpflichtet das Office of Juvenile Justice and Delinquency Prevention (OJJDP) die Anzahl der als jährlich vermisst gemeldeten und wiedergefundenen Kinder in regelmässigen Abständen zu bestimmen (Office of Juvenile Justice and Delinquency Prevention, 2023).
Eine NISMART-Umfrage ergab, dass die Mehrheit der entführten Kinder unter acht Jahre alt war, etwa 25 % dieser Kinder waren unter vier Jahre alt. Die Daten zeigten, dass sowohl die entführenden als auch die zurückgelassenen Eltern im Allgemeinen in ihren Dreissigern waren.
In Bezug auf das Geschlecht ergab die Umfrage, dass 58 % der entführten Kinder Jungen und 42 % Mädchen waren. Sie zeigte auch, dass männliche Entführer vorherrschend sind (72 %) im Vergleich zu weiblichen Entführern (28 %), wobei ehemalige Partner den grössten Anteil der männlichen Entführer ausmachten (Chiancone, o.D.).
Herausforderungen bei Fällen der Kindesentführung durch einen Elternteil
Die Kindesentführung durch einen Elternteil hat sich zu einem Problem von globaler Bedeutung entwickelt. Trotz seiner weltweiten Verbreitung bleibt das öffentliche Bewusstsein für dieses Problem jedoch überraschend niedrig. Eine von der Regierung des Vereinigten Königreichs beauftragte Forschung zeigt auf, dass die Hälfte der Bevölkerung des Vereinigten Königreichs dem Irrglauben erliegt, dass die Regierung eingreifen und die Rückführung eines entführten Kindes in das Vereinigte Königreich anordnen kann, wenn es von einem Elternteil entführt wird (Foreign, Commonwealth & Development Office, 2012).
In Wirklichkeit ist der Prozess weitaus komplexer. Während Unterstützung tatsächlich verfügbar ist, kann die Lösung von Fällen von Kindesentführung durch einen Elternteil ein langwieriger Prozess sein, der sich über Jahre hinziehen kann. Diese lange Dauer hat einen Einfluss auf die Beteiligten und es besteht die Möglichkeit, dass das Kind nie wieder zu seinem sorgeberechtigten Elternteil zurückkommt (Foreign, Commonwealth & Development Office, 2012).

Allein in den Vereinigten Staaten gibt es jedes Jahr mehr als 200.000 Fälle von Entführung durch die Eltern, die alle die Kriterien für eine Strafverfolgung erfüllen. Das Motif der Entführer ist meist die Angst, das Sorgerecht zu verlieren. Manche haben aber auch den Wunsch, das Sorgerecht für das Kind zu erlangen. Da diese Situationen häufig sind und oft in Familien mit Konflikten auftreten, kommt es vor, dass die Strafverfolgungsbehörden Beschwerden übersehen. Sie schreiben sie Familienstreitigkeiten, vermeintlichen Übertreibungen oder mutmasslichen Manipulationen zu Sorgerechtszwecken zu (Stoever, 2017).
In den Vereinigten Staaten sind sowohl Landes- als auch Bundesgerichte für die Rechtsprechung über Rückführungsfälle nach dem Haager Übereinkommen zuständig. Deswegen ist eine der ersten strategischen Entscheidungen für den Rechtsbeistand die Frage, ob er die Klage beim Landes- oder Bundesgericht einreichen soll. Umgangsrechtsfälle, in denen der zurückgelassene Elternteil nur das Umgangsrecht (im Gegensatz zum Sorgerecht) mit dem Kind beantragt, müssen bei einem Landesgericht eingereicht werden.
Von 55 afrikanischen Ländern haben nur 11 das Haager Übereinkommen von 1980 ratifiziert. Abgesehen von Südafrika, das aufgrund zahlreicher Fälle über eine umfangreiche Rechtsprechung verfügt, gibt es auf dem Kontinent nur wenig Literatur und Rechtsprechung zum Übereinkommen und nur wenig Informationen zur praktischen Anwendung. Es sind weitere Anstrengungen nötig, um die Beteiligung der anderen afrikanischen Vertragsstaaten zu verbessern und die 44 Länder, die dem Übereinkommen noch nicht beigetreten sind, zur Ratifizierung zu bewegen (Sloth-Nielsen, 2023).
Globale Strategien zum Schutz von Kindern
Das von 103 Vertragsstaaten ratifizierte Haager Übereinkommen über Kindesentführung von 1980 bietet einen rechtlichen Rahmen für die Rückkehr von Kindern, die von einem Elternteil entführt wurden. Die Wirksamkeit des Übereinkommens ist jedoch umstritten. Nicht alle Staaten sind dem Haager Übereinkommen beigetreten, und einige werden dies aufgrund unterschiedlicher Auslegungen von Entführungsfällen und kultureller Normen in Bezug auf Eltern- und Kinderrechte wahrscheinlich nicht tun. Leider stellen potenzielle Konflikte mit den Rechtssystemen bestimmter Länder eine Herausforderung für die Annahme des Vertrags dar (Hunter, o.D.).
Verschiedene Staaten setzen unterschiedliche Strategien ein, um entführte Kinder zu identifizieren, negative Auswirkungen für das Kind zu verhindern und die Täter zu fassen. Zum Beispiel haben die Vereinigten Staaten strenge Massnahmen wie das AMBER Alert System und das Children’s Passport Issuance Alert Program (CPIAP) eingeführt. Diese Initiativen helfen bei der schnellen Verbreitung von Informationen über vermisste Kinder und bei der Sicherstellung der elterlichen Zustimmung zur Ausstellung eines Reisepasses.
AMBER Alerts werden in schweren Fällen von Kindesentführung ausgelöst, sodass die zuständige Behörde unverzüglich für die sichere Bergung vermisster Kinder sorgen kann. Dieses System wird in den USA und 27 anderen Ländern über datenfähige Geräte verbreitet. Während jedes Land das System an seine spezifischen Bedürfnisse anpasst, bleibt das übergeordnete Ziel das gleiche: die Wachsamkeit derr Öffentlichkeit zu nutzen, um die Strafverfolgungsbehörden bei der Rettung gefährdeter Kinder zu unterstützen (National Center for Missing & Exploited Children, o.D.).
Ausserdem benachrichtigt das Children’s Passport Issuance Alert Program (CPIAP) Eltern in den USA umgehend, wenn ein Passantrag für ein registriertes Kind eingeht, und bestätigt die Zustimmung der Eltern zur Passausstellung. CPIAP macht Eltern auch auf ausstehende oder frühere Passanträge für das Kind aufmerksam. Im Laufe des Jahres 2023 erfuhr CPIAP einen Zustrom von über 3.700 Neuanmeldungen, was dazu beigetragen hat, dass mehr als 66.000 Kinder nun durch das Programm geschützt sind (Department of State Travel, 2024).
Emotionale Belastung für Kinder

Erschwerend für die Situation kommt hinzu, dass Kinder, die Opfer internationaler Entführungen durch die Eltern geworden sind, oft abrupt aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen und von ihrer Familie und Freunden getrennt werden. Diese Isolation kann zur Folge haben, dass Kinder in einer kritischen Phase, in der sie soziale, verhaltensbezogene und emotionale Fähigkeiten entwickeln sollten, über Monate oder sogar Jahre hinweg längere Zeit nicht zur Schule gehen können. Um einer Entdeckung auszuweichen oder die Wiedervereinigung mit dem anderen Elternteil zu verhindern, könnte das Kind an mehrere geheimgehaltene Orte verbracht werden (US Department of Justice, 2023).
Ausserdem kann das angespannte Verhältnis zwischen den Eltern tiefgreifende emotionale Auswirkungen auf das Kind haben. Entführte Kinder sind sehr anfällig für die Entwicklung langfristiger psychischer Probleme wie Ängste, Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen und aggressives Verhalten. Diese Herausforderungen können bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben und zu Problemen mit Identität, Beziehungen und Familiendynamiken führen (US Department of Justice, 2023).
Aufgrund globaler Veränderungen in der Familiendynamik und eskalierender Konflikte zwischen Paaren hat sich das Problem verschärft. Streitigkeiten aufgrund der Trennung der Eltern zusammen mit der Manipulation von Kindern führen zu mehr Entführungsfällen, die Minderjährigen dauerhaft Schaden zufügen. Kinder, die von den Eltern entführt werden, sind oft in die Streitigkeiten ihrer Eltern verwickelt. Daher ist es heute wichtiger denn je, Grundsätze für das Kindeswohl, wie sie in der Kinderrechtskonvention zusammengefasst sind, zu stärken (Martin Gonzales, 2015).
Der Schlüssel zur Verhinderung internationaler Kindesentführungen durch die Eltern
Um mehr Entführungen zu verhindern ist es entscheidend, proaktive Massnahmen zu ergreifen. Erstens sollten Eltern niemals davon ausgehen, dass ihr Kind vor einer Entführung gefeit ist, und sie sollten immer wachsam und auf mögliche Risiken vorbereitet sein. Eine gute Kommunikation mit dem Kind ist von entscheidender Bedeutung. Wenn Kinder wesentliche Informationen wie ihren vollständigen Namen, ihre Adresse und ihre Telefonnummer kennen und sie mit einem Telefon umgehen können, können sie sich bei Bedarf Hilfe holen (City of Independence, Missouri, o. J.).
Eltern sollten ihre Erziehungsvereinbarungen zusätzlich durch Einverständniserklärungen formalisieren; ein wesentlicher Schritt um Klarheit und Verantwortlichkeit zu gewährleisten. Eltern müssen wachsam bleiben, auch bei scheinbar routinemässigen Aktivitäten wie der Genehmigung von Auslandsreisen für den anderen Elternteil. Leider nutzen einige dieses Vertrauen aus und bringen ihre Kinder in Länder, die die Konvention nicht unterzeichnet haben, da sie nicht die Absicht haben, zurückzukehren. Dies hat oft keine rechtlichen Konsequenzen. Beängstigend ist, dass fast die Hälfte der Entführungsfälle in Australien nach diesem Schema erfolgen (Australian Family Lawyers, o.D.).

Darüber hinaus könnte die Verabschiedung eines Protokolls zur alternativen Streitbeilegung (ADR) als Teil des Haager Übereinkommens eine entscheidende Rolle bei der Verhinderung von Entführungsfällen spielen. Die ADR, zu der Methoden wie Mediation und Schlichtungsverfahren zählen, bietet im Vergleich zu traditionellen Gerichtsverfahren einen weniger feindseligen Ansatz an. Daher hat ein gut gestaltetes ADR-Protokoll das Potenzial, die negativen Auswirkungen langwieriger und umstrittener internationaler Sorgerechtsstreitigkeiten zu minimieren (Pawlowski, 2007).
Geschrieben von Lidija Misic
Intern Korrektur gelesen von Aditi Partha
Übersetzt von Kathrin Lukas
Korrekturgelesen von Helga Burgat
Zuletzt bearbeitet am 19. August 2024
Quellenangaben:
Australian Family Lawyers (n.d.), How to prevent international child abduction from Australia. Retrieved from Australian Family Lawyers at https://www.australianfamilylawyers.com.au/information-centre/preventing-international-child-abduction, accessed on June 12, 2024.
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