Das „schwarze Loch“ der Kindesentführung: Japans Gesetze zum Sorgerecht für Kinder

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Japan ist eines der wenigen Länder in der Welt, das ein System des alleinigen Sorgerechts schützt und aufrechterhält (Cosier & Grant, 2022). Als Folge davon, versagen die Gesetze in dem ostasiatischen Land beim umfassenden Schutz der Rechte beider Elternteile im Falle einer Scheidung und einer ehelichen Trennung.

Im Zuge der zunehmenden kultur- und länderübergreifenden Eheschließungen und trotz der kritischen Beobachtung durch die internationale Rechtsgemeinschaft erleben die nicht sorgeberechtigten Elternteile nach einer Scheidung die traumatische Realität der kompletten Isolierung vom Leben ihrer Kinder. 

Die sich wandelnde Elternlandschaft in Japan

Viele der von Japan begegneten Herausforderungen in Bezug auf seine Scheidungsrechte wurden durch die Zunahme von länderübergreifenden Eheschließungen verschärft (Hamano, 2017). Insbesondere und seit Anfang der 2000er Jahre ist in Japan eine nachweisliche Zunahme der Heirat von japanischen Frauen mit nicht japanischen Männern zu beobachten (Hamamo, 2017).

Parallel dazu hat das japanische Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales ein erhöhtes Vorkommen von Scheidung bei länderübergreifenden Paaren beobachtet, in wahrscheinlichem Zusammenhang mit größeren Unterschieden in der Kultur, dem Hintergrund und unzureichenden Unterstützungssystemen (Hamano, 2017). Vor 10 Jahren betrafen fast 10% aller registrierten Scheidungen in Japan länderübergreifende Eheschließungen und diese Anzahl ist seitdem gestiegen (Hamano, 2017). 

Scheidungen zwischen länderübergreifenden Paaren bringen zusätzliche Komplexitäten mit sich. Die Trennung dieser Eltern kann über nationale Grenzen hinausgehen, mehrere Rechtssysteme einbeziehen und die Hierarchie des Rechts verschleiern. Japanische Gerichte tendieren dazu, die Interessen des Elternteils zu begünstigen, der das Sorgerecht für das Kind in Japan hat, und erlauben diesem Elternteil sogar, das Land mit seinem Kind ohne die Zustimmung oder das Wissen des zweiten Elternteils zu verlassen (Foreign and Commonwealth Office, 2021). 

Alleinige elterliche Verantwortung 

Japan hält sich nicht an die Grundsätze des gemeinsamen Sorgerechts oder der gemeinsamen elterlichen   Verantwortung (Hurights Osaka, 2022). In der Ehe haben beide Elternteile das Sorgerecht ihrer Kinder, es sei denn, es wird ein Gerichtsbeschluss erlassen (Foreign and Commonwealth Office, 2021).

Dieses Sorgerecht kann in „rechtliche“ und „physische“ Kategorien unterteilt werden, obwohl es selten ist, dass diese Rechte an zwei getrennte Elternteile angegliedert und übertragen werden (Foreign and Commonwealth Office, 2021). Wenn jedoch Ehen und elterliche Beziehungen zerbrechen, sind die japanische Gesetze restriktiv. 

Nach einer Scheidung, und ungeachtet der Nationalität, wird nur einem Elternteil das Sorgerecht eines japanischen Kindes gewährt, es sei denn, die Eltern einigen sich außerhalb des Gerichts auf ein gemeinsames Sorgerecht (Hurights Osaka, 2022). Es besteht auch keine Verpflichtung für Richter zur Annahme oder Berücksichtigung von ausländischen Gerichtsbeschlüssen bei ihrer Beratung (Foreign and Commonwealth Office, 2021).

Der Entscheidungsprozess, der bestimmt welcher Elternteil das Sorgerecht erhält, ist daher ein entscheidender Teil der Registrierung eines Kindes nach der Scheidung. Die bestehenden Gesetze lassen den Richtern einen großen Ermessensspielraum bei der Zuweisung des Sorgerechts an einen bestimmten Elternteil sowie bei der Regelung des Umgangsrechts und anderer Treffen zwischen Eltern und Kind (Hurights Osaka, 2022).

Dadurch sind nicht sorgeberechtigte Elternteile der Gnade des sorgeberechtigten Elternteils und des Rechtssystems ausgeliefert. In extremen Fällen dürfen nicht sorgeberechtigte Elternteile ihr Kind unter keinen Umständen sehen oder Fotos von dessen Wachstum bekommen (Hurights Osaka, 2022).

Darüber hinaus verzichten nicht sorgeberechtigte Elternteile nach der Trennung auf ihr Recht, über die Schulbildung oder die medizinische Versorgung ihres Kindes zu entscheiden (Hurights Osaka, 2022). In einer Umfrage von der Regierung aus dem Jahr 2021 wurde festgestellt, dass über 200.000 Kinder jedes Jahr von Scheidung betroffen sind, wobei fast ein Drittel davon den Kontakt mit ihrem nicht sorgeberechtigten Elternteil total verliert (Katanuma, 2023).

Einschränkungen für nicht sorgeberechtigte Eltern 

Der Grundsatz, der dem richterlichen Ermessen in Scheidungsfällen zugrunde liegt, ist „Kontinuität“: die Richter werden aufgefordert, der Stabilität, der de facto Hauptpflegeperson, und dem eingelebten Status des Kindes in einem Haushalt Vorrang einzuräumen (Hurights Osaka, 2022). Der Elternteil, der zum Zeitpunkt der Trennung mit dem Kind zusammen war, wird in der Regel bevorzugt und erhält die Befugnis zum Besuchsrecht und zu anderen Entscheidungen in Bezug auf den Umgang des nicht sorgeberechtigten Elternteils mit dem Kind (Cosier & Grant. 2022).

Eine Folgewirkung der Bevorzugung von Kontinuität gegenüber Veränderungen ist, dass die Gerichte in der Regel das Sorgerecht dem Elternteil gewähren, der ‘sich zuletzt um das Kind gekümmert hat’ (Bagshaw, 2021).

Es wird oft die Theorie vertreten, dass dieses System eine Reaktion auf weitverbreitete häusliche Gewalt ist, die von Männern gegen ihre Frauen verübt wird (Bagshaw, 2021). Frauen sind überwiegend die Hauptpflegepersonen in Japan, und die derzeitige Gesetzeslage ermöglicht Müttern, die Opfer von häuslicher Gewalt waren, das Sorgerecht für ihre Kinder zu behalten, ohne dass sie mit ihren Tätern in Kontakt treten müssen. Die Anschuldigungen wegen häuslicher Gewalt sind seit 2001 um 500% gestiegen und 75% der gemeldeten Opfer sind Frauen (Katanuma, 2023). 

Die Grundsätze des alleinigen Sorgerechts schützen Alleinerziehende auch vor einer übermäßigen Abhängigkeit von potenziell missbrauchenden Partnern in Bezug auf das finanzielle und materielle Wohlergehen ihrer Kinder. Unbeabsichtigt schafft das Gesetz auch die Möglichkeit, dass der sorgeberechtigte Elternteil dem nicht sorgeberechtigten Elternteil nach dem Scheitern der Beziehung übermäßige Einschränkungen auferlegt. 

Die Haager Konvention und das Völkerrecht

Die Haager Konvention über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung von 1980 ist ein multilateraler Vertrag, der Kinder vor unrechtmäßigem Verbringen und Zurückhalten über internationale Grenzen hinweg schützen soll. (Hague Conference on Private International Law, 2023). Gemäß den Bestimmungen sind die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, „die Möglichkeit von Besuchen oder Kontakten zwischen Eltern und Kindern zu gewährleisten“ (Ministry of Foreign Affairs of Japan, 2022).

Dieses Erfordernis schreibt ferner vor, dass die Länder die Verwirklichung des Umgangsrechts für Eltern und Kinder unterstützen sollten, wenn sie geografisch getrennt sind, um das Wohl des Kindes zu schützen (Ministry of Foreign Affairs of Japan, 2022). 

Japan ratifizierte die Haager Konvention im Jahre 2014 (Hamano, 2014). Trotz der Ratifizierung muss das Land noch radikale Änderungen an seinen Gesetzen vornehmen, um die volle Umsetzung zu gewährleisten. Japan hat die Forderungen nach drastischen Änderungen seiner Stellung zum gemeinsamen Sorgerecht im Wesentlichen zurückgewiesen und betonte die Bedeutung des Koseki-Systems: das japanische System zur Registrierung von Familien im Land, das seit Jahrhunderten in Kraft ist (Hamano, 2017).

Diese Tatsache in Verbindung mit der begrenzten Anwendbarkeit der Haagen Konvention auf Kinder unter 16 Jahren bedeutet, dass Eltern, die derzeit mit Problemen im Zusammenhang mit dem alleinigen Sorgerecht konfrontiert sind, in einem Wettlauf mit der Zeit stehen. 

Kindesentführung nach japanischem Recht

Abgesehen von den Herausforderungen, die das System des alleinigen Sorgerechts mit sich bringt, verstärken die japanischen Gesetze in Bezug auf Kindesentführung die Minimierung der Rechte von nicht sorgeberichtigten Elternteilen. Kindesentführung wird durch Artikel 224 des japanischen Strafgesetzbuches unter Strafe gestellt, und diese Position gilt für alle potenziellen Straftäter, einschließlich der Eltern ihrer eigenen Kinder (Hurights Osaka, 2022). Gesetze zur Kindesentführung werden somit als Waffe eingesetzt, um die Trennung zwischen nicht sorgeberechtigten Eltern und ihren Kindern aufrechtzuerhalten. 

Im Jahr 2005 entschied der Oberste Gerichtshof Japans, dass die Entführung eines Kindes nicht durch das Vorhandensein elterlicher Autorität gerechtfertigt werden kann, und entschied, dass ein Vater nicht berechtigt war, sein zweijähriges Kind der Mutter wegzunehmen (Hurights Osaka, 2022).

Im Jahr 2019 verurteilte Japan einen australischen Mann zu sieben Wochen Haft, nachdem er versucht hatte, sich nach dem Wohlergehen seiner Kinder zu erkundigen, die von seiner japanischen Frau ohne gemeinsame Zustimmung entführt worden waren (Hurights Osaka, 2022). Es gibt weitere nachweisliche Fälle, in denen die offiziellen Beschwerden von Eltern über Kindesmissbrauch und -entführung von japanischen Institutionen ignoriert wurden.

Kontrolle durch die internationale Rechtsgemeinschaft

Der Fall von Vincent Fichot hat diese unnachgiebige Praxis international bekannt gemacht. Als verheirateter Vater musste er mit ansehen, wie seine Beschwerden über Kindesentführung vier Jahre lang ignoriert wurden, nachdem seine Frau die gemeinsamen Kinder entführt hatte, und ihm wurde eine strafrechtliche Verfolgung nach den Gesetzen über Kindesentführung angedroht, falls er versuchen sollte, seine Kinder von seiner Frau zurückzuholen, obwohl er das volle elterliche Sorgerecht innehatte (Hurights Osaka).

Es gelang Vincent schließlich mit der Unterstützung von Interpol einen Haftbefehl zu erwirken, da seine Kinder die doppelte Staatsangehörigkeit besitzen (Hurights Osaka, 2022). Die japanischen Behörden reagierten auf diesen Vorfall, mit einer verstärkten Überwachung von Beschwerden über Kindesentführung und einer Sensibilisierung der Strafverfolgungsbehörden für diese Problematik (Hurights Osaka, 2022). 

Japanische Gerichte haben auch einen Ermessensspielraum in Bezug auf das Umgangsrecht von nicht sorgeberechtigten Elternteilen, ungeachtet von Gerichtsbeschlüssen anderer Gerichte (Foreign and Commonwealth Office, 2021). Die Herausforderungen und Gefahren dieses Systems liegen auf der Hand und haben international Besorgnis ausgelöst. Die australische Regierung hat seit 2004 mehr als 80 Kindern in Sorgerechtsfällen in Japan Hilfe geleistet (Cosier & Grant, 2022). 

Im Jahr 2019 verurteilten die Staats- und Regierungschefs von Deutschland, Frankreich und Italien Japan für seine derzeitige Haltung (Yakimova, 2020). Im selben Jahr leitete der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eine formelle Beschwerde ein, in der Japan beschuldigt wurde, internationales Recht zu verletzen: Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes (UNCRC) und das Haager Übereinkommen (Yakimova, 2020).

Wege zum Schutz der Rechte von Kindern und Eltern in Japan

Während sich Japan mit grundlegenden Fragen zu den Auswirkungen seiner Sorgerechtsgesetze und -politik auseinandersetzt, muss das Land weiterhin das Wohl des Kindes in den Vordergrund stellen. Insbesondere müssen Anstrengungen unternommen werden, um:

  1. Die internationalen Bestimmungen durchzusetzen und die Umsetzungsanforderungen des Haager Übereinkommens einzuhalten (Yakimova, 2020);
  2. Dem Wohl des Kindes in Übereinstimmung mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes Vorrang einzuräumen, um sicherzustellen, dass gegebenenfalls alle Anstrengungen unternommen werden, um die entscheidende Beziehung zwischen einem Kind und seinem Elternteil aufrechtzuerhalten (Yakimova, 2020);
  3. Grenzüberschreitende und transnationale Systeme in den Rahmen des Kinderschutzes einzubauen, um sicherzustellen, dass ausländische Gerichtsbarkeiten Informationen über die Funktionsweise der japanischen Kinderschutzsysteme erhalten und Eltern Möglichkeiten haben, grenzüberschreitende Streitigkeiten einzuleiten und aufrechtzuerhalten (Yakimova, 2020);
  4. Sicherzustellen, dass die Bestimmungen zur doppelten Staatsbürgerschaft den Zugang der Kinder zu ihren Eltern nicht behindern. Kinder in Japan müssen sich bis zum Alter von 22 Jahren für eine Staatsangehörigkeit entscheiden; diese Entscheidung sollte den Zugang zu beiden Elternteilen nicht behindern (Foreign and Commonwealth Office of Australia, 2021); 
  5. Die Unterstützung von Botschaften und Nichtregierungsorganisationen zu nutzen, um sicherzustellen, dass entführte Kinder und zurückgelassene Eltern nicht ignoriert werden (Foreign and Commonwealth Office of Australia, 2021);
  6. Innovative und neuartige Technologien zu nutzen, um Kinder bei der Wiederherstellung des Kontakts zu ihren Eltern besser zu unterstützen. Find My Parent (FMP) ist ein Beispiel für die laufenden Bemühungen, mobile Plattformen zu nutzen, um Eltern dabei zu helfen, mit ihren verlorenen Kindern wieder in Kontakt zu treten (Foreign and Commonwealth Office of Australia, 2021);
  7. Das Bewusstsein für das Wohlergehen von Kindern zu stärken, um sicherzustellen, dass Kinder, die von einem ihrer Elternteile getrennt sind, Unterstützung bei der Bewältigung des Traumas der Scheidung erhalten und einen Raum haben, um ihre Sorgen zu äußern (Foreign and Commonwealth Office of Australia, 2021).

Humanium setzt sich weiterhin für den Schutz der Rechte von Kindern ein, einschließlich ihrer Rechte auf Familie, Schutz und Freiheit. Humanium setzt sich dafür ein, dass Kinder ihre Rechte wahrnehmen können. Wenn Sie zur Sache von Humanium beitragen möchten, erwägen Sie bitte, ehrenamtlich tätig zu werden, Mitglied zu werden oder zu spenden.

Geschrieben von Vanessa Cezarita Cordeiro 

Übersetzt von Freya Swinburne

Korrektur gelesen von Beate Dessewffy 

Quellenangaben: 

Bagshaw, E. (2021, August 14). “Their children were taken. Now they fight Japanese laws to get them back.” Retrieved from The Sydney Morning Herald, accessed on 22 May 2023. 

Cosier, C. & Grant, K. (2022, October 11). “Whoever abducts first wins: Why Japan won’t allow this Australian mother to see her children.” Retrieved from SBS Dateline News Australia, accessed on 19 May 2023.  

Foreign and Commonwealth Office. (2021, March 19). “Guidance information on child abduction in Japan.” Retrieved from Foreign and Commonwealth Office, accessed on 20 May 2023.  

Hague Conference on Private International Law. (n.d). “Child abduction section.” Retrieved from HCCH, accessed on 20 May 2023.  

Hamano, T. (2017). “The aftermath of Japan’s ratification of the Hague Convention on Child Abduction: an investigation into the state apparatus of the modern Japanese family.” Retrieved from IAFOR Journal of Asian Studies, accessed on 19 May 2023.  

Hurights Osaka. (2022, June). “Black hole of the child abduction.” Retrieved from Asia-Pacific Human Rights Information Centre, accessed 22 May 2023. 

Katanuma, M. (2023, January 25). “Japan tries to fix a child custody system under fire from all sides”. Retrieved from The Japan Times, accessed 15 May 2023. 

Ministry of Foreign Affairs of Japan. (2022, November 22). “Overview of the Hague Convention and related Japanese legal systems.” Retrieved from Ministry of Foreign Affairs of Japan, accessed on 19 May 2023.  

Official Journal of the European Union. (2019, June 25). “Council regulation (EU) 2019/1111 of 25 June 2019 on jurisdiction, the recognition and enforcement of decisions in matrimonial matters and the matters of parental responsibility, and on international child abduction.” Retrieved from Official Journal of the European Union, accessed on 22 May 2023.  

Yakimova, Y. (2020, July 8). “Parliament sounds alarm over children in Japan taken from EU parents.” Retrieved from European Parliament News, accessed on 12 May 2023.