Ein Hilferuf: die Rückführung ausländischer Kinder in Nordost Syrien

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Seit mehr als einem Jahrzehnt herrscht in Syrien Bürgerkrieg. Dieser Konflikt, in dem es überwiegend um territoriale Kämpfe zwischen den Unterstützern des Präsidenten Al-Assad, den gegnerischen Rebellen und den Akteuren des Islamischen Staates (ISIS) geht, hat sich auch nachteilig auf das Leben gefährdeter Kinder ausgewirkt, die Nachkommen ausländischer IS-Kämpfer sind.

Besonders im Jahr 2019 trieben die Demokratischen Kräfte Syriens (DKS) die Familien von über 60.000 Familienmitgliedern mutmaßlicher IS-Kämpfer zusammen (Human Rights Watch, 2021). Die darauffolgende Entscheidung der Vereinigten Staaten von Amerika (USA), ihre Truppen noch im selben Jahr aus dem Norden Syriens abzuziehen, führte zu einem Machtvakuum und ließ Zehntausende dieser Familienmitglieder in schwer bewachten Auffanglagern gefangen zurück (Human Rights Watch, 2021).

Die Situation vor Ort

Seit Beginn des Krieges in Syrien im Jahr 2011, zog es immer mehr ausländische Staatsangehörige in das Land, um dort den Islamischen Staat und dessen Ziele zu unterstützen. 2019 wurden 60.000 Familienmitglieder ausländischer IS-Kämpfer von den Demokratischen Kräften Syriens gefangen genommen und anschließend inhaftiert, darunter auch 8.000 Kinder und 4.000 Frauen aus rund 60 Ländern (Tayler & Huyghe, 2021). Weitere 2.000 Männer und Jungen werden in grausamen und unmenschlichen Ad-hoc Gefängnissen festgehalten; Wissenschaftler befürchten, dass sie in naher Zukunft einer Folter ausgesetzt werden könnten (Tayler & Huyghe, 2021).

Laut verschiedenen Organisationen sind in den zugewiesenen Familienlagern al-Hoj und Roj über 90% der Kinder unter 12 Jahre alt (Human Rights Watch, 2021). Während Berichte darauf hinweisen, dass syrische und irakische Staatsangehörige relativ frei sind, die benannten Lager zu verlassen und dorthin zurückzukehren, scheinen ausländische (in der Region lebende) IS-Familienmitglieder eine andere Situation zu erfahren. Sie sehen sich mit stark eingeschränkten Freiheiten und weltweit berichteten Menschenrechtsverletzungen konfrontiert (Human Rights Watch, 2021). Diese Misshandlungen haben zu weltweiten Aufrufen geführt, ausländische Staatsangehörige, die in diesen Lagern gefangen sind, in ihr Heimatland zurückzuführen, um sie vor weiterem Leid zu schützen. 

„Die ausländischen Kinder in den Flüchtlingslagern im Norden und Osten Syriens leben dort unter den härtesten Bedingungen, die man sich vorstellen kann; wenn sie krank werden, ist es unwahrscheinlich, dass sie behandelt werden. Sie haben keinen Zugang zu sauberem Wasser und ausreichender Nahrung. Jüngste Gewalttaten und Ängste vor einem Massenausbruch von COVID-19 verschlimmern ihr Leid nur noch mehr.“

– Sonia Khush, Leiterin von Save the Children in Syrien, 2021

Den jüngsten Recherchen von Save the Children zufolge, gibt es fast 30.000 ausländische Kinder, die auf ihre Rückführung warten, während auftauchendes Filmmaterial die unhygienischen und lebensbedrohlichen Lebensbedingungen in den Lagern zeigt (Save the Children, 2021). Im Großen und Ganzen fehlt es den Lagern an einer entsprechenden Finanzierung und der Grundversorgung, was, in Verbindung mit der deutlichen Überfüllung der Lager, die gesamten Bewohner gefährdet (Epure & Yavan, 2021).

Es ist wahrscheinlich, dass diese Lebensbedingungen psychische und physische Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder haben werden, insbesondere im Hinblick auf Berichte über sexuelle Gewalt, Ausbeutung, Belästigung, illegalen Menschenhandel und Konfrontationen mit den IS-Doktrinen im Kamp (Epure & Yavan., 2021). Insbesondere junge Mädchen sind gefährdet, was Misshandlungen und sexuellen Missbrauch angehen; somit ist hier eine geschlechtsspezifische Unterstützung notwendig (Schennah, 2020). 

Rückführung nach internationalem Recht

Das Recht auf Rückkehr ist in allen internationalen Menschenrechtsinstrumenten verankert, darunter Artikel 10 Absatz 1 der UN-Kinderrechtskonvention, Artikel 12 Absatz 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR), Artikel 33 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951, der Resolution 194 der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1948 und Artikel 13 Absatz 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR).

Der Grundgedanke dieses Rechts wird am besten in Artikel 13 Absatz 2 der AEMR deutlich, dieser besagt, dass „jeder das Recht dazu hat, ein Land zu verlassen, einschließlich sein eigenes, und in sein eigenes Land zurückzukehren“. Wie von Human Rights Watch beschrieben, verdeutlicht dieses Gesetz auch, dass es in der Verantwortung des Staates liegt, alle angemessenen Schritte zu unternehmen, um seine Bürger im Ausland vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen (Human Rights Watch, 2021). 

Das Recht auf Rückkehr ist ein unabdingbares und verpflichtendes allgemeines Recht, dass gleichermaßen für Männer als auch für Frauen und Kinder gilt, und den willkürlichen Freiheitsentzug einer Person verhindert (Sayej, 2018). Diese Definition erstreckt sich auch auf neugeborene Kinder und zwingt die Staaten dazu, jedem das Recht auf Staatsangehörigkeit zu gewährleisten und damit Staatenlosigkeit zu verhindern (Human Rights Watch, 2021).

Trotz seiner Wichtigkeit ist das Bleiberecht nicht absolut, was bedeutet, dass Ausnahmen per Gesetz erlaubt sind. Ohne ein Gerichtsverfahren ist die unbefristete Inhaftierung der Familienmitglieder der ausländischen IS-Kämpfer unzulässig (Human Rights Watch, 2021). Indem Familienmitglieder, die weder angeklagt sind noch gegen sie ermittelt wird, für das Verbrechen ihrer Verwandten bestraft werden, werden dadurch Schuld durch Assoziation und kollektive Bestrafung unterstützt. Zwei Prinzipien, die nach internationalem Gesetz verboten sind.

„Kinder haben ein Recht auf Nationalität und Identität und dürfen nicht staatenlos bleiben. Die Rückführung ausländischer Kinder sollte vorrangig „im besten Interesse des Kindes“ erfolgen. Sie sollten außerdem bei der Wiedereingliederung, der Erlangung von Bildung, dem Gesundheitswesen und der Arbeitssuche unterstützt werden.“

– Aljazeera, 2021

In Bezug auf Kinder, fordert die verbindliche Resolution 2396 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (UN) aus dem Jahre 2017 alle Staaten dazu auf, Frauen und Kinder, die mit terroristischen Gruppen in Verbindung gebracht werden, zu unterstützen (Human Rights Watch, 2021). Die Resolution macht die Notwendigkeit von Wiedereingliederungsmaßnahmen deutlich und betont die Gefahren, denen Familienmitgliedern von Terroristen als Opfer des Terrorismus ausgesetzt sind.

Was machen die Länder?

Trotz internationaler Verpflichtungen und rechtlicher Verantwortung sind Länder weltweit zurückhaltend, was die Ausbürgerung ihrer Staatsangehörigen aus Syrien angeht. Bislang haben 28 Länder ihre Bürger aus dem Ausland zurückgeführt oder sie dabei unterstützt. Dass Westeuropa, Kanada und Australien nur sehr wenige Menschen zurückgebracht haben, wird dabei aber nicht erwähnt (Tayler & Huyghe, 2021).

Trotz der Aufrufe des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zur Rückführung arbeiten einige Länder aktiv daran, potenzielle Rückkehrer nicht aufnehmen zu müssen (Tayler & Huyghe, 2021). Die von Großbritannien und den USA geführte Koalition, die gegen den Islamischen Staat arbeitet, beschäftigt sich gerade mit dem Bau von Gefängnissen und Rehabilitationszentren, in denen die Täter und ihre Familienangehörigen untergebracht werden sollen. Ein starkes Symbol ihrer Intention (Tayler & Huyghe, 2021). 

Der Widerstand der westlichen Länder gegen eine Rückführung ist dabei nichts Neues. Im Jahr 2019 dementierten einige Staaten die Einführung des Begriffs „Rückführung“ in die UN-Liste der wichtigsten Grundsätze im Zusammenhang mit terroristischen Organisationen (Tayler & Huyghe, 2021). Dieser Widerstand ist ein Symbol für den Wunsch der Staaten, ihre autonome Entscheidungsbefugnis darüber aufrechtzuerhalten, wen sie zurückführen wollen; dabei wird im Grunde genommen stillschweigend die Diskriminierung bei Rückführungsanträgen unterstützt. Trotzdem hat die UN ihre Position von 2021 noch einmal bekräftigt und die „dringende“ Bedeutung der Rückführung der Bürger aus syrischen Lagern betont (Aljazeera, 2021). 

Ohne die strikte Einhaltung der internationalen Gesetze behindern viele europäische Länder die Rückkehr ihrer Bürger aus Syrien, wobei es große Unterschiede gibt. Belgien hat sich dafür eingesetzt, dass kleine Kinder zurückkehren können (BBC, 2021). Russland und Kasachstan sind einen Schritt weitergegangen und haben fast 1.000 Kinder und ihre Familienmitglieder zurückgebracht (Aljazeera, 2021). Dennoch, während Länder wie Deutschland und Finnland einige Mütter und ihre Kinder zurückgebracht haben, erlauben andere, beispielsweise Kanada, Großbritannien und Frankreich, nur die Rückkehr für Kinder ohne ihre Mütter – dabei verstoßen sie offenkundig gegen die internationalen Grundsätze über die Einheit der Familie (Aljazeera, 2021).

„Nach nationalem, europäischem und internationalem Menschenrecht, steht Kindern ein besonderer Schutz zu, und die Staaten haben eine rechtliche Verpflichtung, dass vorrangig im besten Interesse des Kindes gehandelt wird, wenn es um Situationen geht, die dieses betreffen. In Bezug auf die elenden Bedingungen in den Lagern im Nordosten Syriens ist die weitere Inhaftierung in den Lagern, auf Grundlage eines jeden Rechtsstandards, nicht im besten Interesse des Kindes.“

– Epure & Yavan, 2021

Insgesamt entfallen 85% aller internationalen Rückführungen aus Syrien auf Kasachstan, den Kosovo und Russland. Es haben lediglich 25 von 60 Ländern Versuche unternommen, ihre Bürger zurückzuführen (Human Rights Watch, 2021).

Wege in die Zukunft im besten Interesse des Kindes

Familienmitglieder von IS-Kämpfern haben weder einen fairen Prozess erhalten, um die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung zu klären, noch wurden sie einer kriminellen Handlung beschuldigt (Human Rights Watch, 2021). Für die Zukunft ist es zwingend erforderlich, dass autonome Einrichtungen geschaffen werden, die den Inhaftierten ein ordnungsgemäßes Verfahren und einen fairen Prozess gewährleisten (Human Rights Watch, 2021). In Fällen, in denen ein Missbrauch nachgewiesen wird, sollte die Inhaftierung verboten und die Herkunftsstaaten verpflichtet werden, die Menschen, die keiner Straftat angeklagt sind, zurückzuführen (Human Rights Watch, 2021).

Vor Ort müssen lokale und internationale Organisationen dafür sorgen, dass die Aktivitäten in den Lagern überwacht, die Bedingungen verbessert und den Bedürftigen medizinische und rehabilitative Unterstützung angeboten werden (Human Rights Watch, 2021). Vor allem nach COVID-19, das die unhygienischen Bedingungen in den Lagern nur noch verschärft und die weltweiten Rückführungen verlangsamt hat, wird mehr Unterstützung benötigt, um die Lagerinsassen vor den Auswirkungen der Pandemie zu schützen (Human Rights Watch, 2021).

Auf strategischer Ebene steht 2021 die Fertigstellung der weltweiten Strategie zur Terrorismusbekämpfung an, die als Plattform genutzt werden muss, um die Staaten in Bezug auf die Rückführung zur Verantwortung zu ziehen, und um vor allem den Schutz der grundlegenden Menschenrechte und Freiheiten zu stärken (Tayler & Huyghe, 2021).

Am wichtigsten ist, dass alle Maßnahmen im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) und im besten Interesse aller Kinder ausgeführt werden müssen. Dass Kinder von ihren Eltern getrennt werden, verstößt gegen das Recht auf Familienleben nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und ihre willkürliche Inhaftierung verletzt Artikel 6 der UN-Kinderrechtskonvention. Wenn Kinder nicht aus ihrer aktuellen Umgebung gerettet werden, so riskieren wir, dass sie staatenlos und ohne Nationalität leben müssen (Aljazeera, 2021). 

Wir von Humanium möchten das Bewusstsein für die Bedeutung der Kinderrechte auf Nahrung, Bildung und Schutz schärfen. Helfen Sie mit, das Recht der Kinder auf eine sichere Umgebung und zugängliche Bildung zu verwirklichen. Übernehmen Sie eine Patenschaft für ein Kind, spenden Sie oder unterstützen Sie uns ehrenamtlich!

Geschrieben von Vanessa Cezarita Cordeiro 

Übersetzt von Franziska Theis

Korektur gelesen von Hettie M-J

Für mehr Informationen:

Table of pending cases before the Committee on the Rights of the Child 

Quellen:

Aljazeera. (2021, January 30). ¨UN urges countries to repatriate 27,000 children from Syria camp.¨, accessed on 17 September 2021.  

BBC News. (2021, July 16). ¨Belgium takes back mothers and children from Syria jihadist camps.¨, accessed on 17 September 2021.  

Epure, G, & Yavan, D. (2021, July 22). “Why hundreds of European children living in Syrian camps must be repatriated.”, accessed on 17 September 2021.  

Human Rights Watch. (2021, March 23). Thousands of foreigners unlawfully held in NE Syria.¨, accessed on 16 September 2021. 

Human Rights Watch. (2021, May 26). ¨Nordic countries: repatriate nationals from Northeast Syria.¨, accessed on 16 September 2021.  

Liefaard, T., & Bosman-Sandelowsky, C. (2020, December 16). “Children trapped in camps in Syria, Iraq and Turkey: reflections on jurisdiction and state obligations under the United Nations Convention on the Rights of the Child.” Nordic Journal of Human Rights. Vol 38 (2), pp. 141-158., accessed on 17 September 2021.  

Open Society Justice Initiative. (2021, July). “European states’ obligations to repatriate the children detained in camps in Northeast Syria.”, accessed on 17 September 2021.  

Save the Children. (2021, February 1). “Repatriation of foreign children in Syria slowed by COVID-19, as new footage emerges of life in camps.”, accessed on 15 September 2021.  

Sayej, L. (2018, May 14). “Palestinian refugees and the right of return in international law.” Oxford Human Rights Hub, accessed on 20 September 2021. 

Schennach, S. (2020, January 28). “International obligations concerning the repatriation of children from war and conflict zones.” Committee on Social Affairs, Health and Sustainable Development. Council of Europe, accessed on 20 September 2021. 

Scott, F. (2019, October 13). ¨British orphans found trapped in Syria IS camps.¨ BBC News Video Journalist, accessed on 17 September 2021.

Tayler, L., & Huyghe, A. (2021, June 17). “Foreign ISIS suspects, families: Why a single “R” word matters at the UN.” Human Rights Watch, accessed on 15 September 2021.

United Nations Committee on the Rights of the Child. (2012, February 2012). “Consideration of reports submitted by States parties under Article 44 of the Convention: Concluding observations of the Syrian Arab Republic.” Fifty-eighth session, CRC/C/SYR/CO/3-4, accessed on 20 September 2021.

United Nations General Assembly. (2021, July 9). ¨Adopted by the security council at its 8817th meeting, on 9 July 2021.¨ United Nations Security Council, S/RES/2585, accessed on 15 September 2021.